Seit über einem Jahr lähmt die Pandemie das gesellschaftliche Leben, insbesondere den Kultursektor. Wie haben Orchestermusiker*innen und Institutionen in Bern, Basel und Genf dieses Jahr erlebt?
Trotz einiger Lockerungen kann noch keine Rede davon sein, dass im Musikleben der Schweiz wieder Normalbetrieb herrscht. Welche Aufführungen unter welchen Bedingungen in der Saison 2020/21 noch stattfinden können, ist im Moment noch unklar.
In Bern ging die Konzertsaison 2019/20 am 12. März mit einer Aufführung der 9. Symphonie von Anton Bruckner unter der Leitung des Chefdirigenten Mario Venzago abrupt zu Ende. Bereits die Wiederholung des Konzerts durfte aufgrund des Lockdowns nicht mehr gespielt werden. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie sollte sich nicht erfüllen: Vor der Sommerpause fanden im mit 300 Personen besetzten grossen Casinosaal nur noch drei Beethoven-Konzerte mit einem Orchester von 15 Musiker*innen statt. Auch die Oper musste ihren Betrieb einstellen.
Im September und Oktober bis zum Lockdown Ende Jahr konnten einige Symphoniekonzerte und eine CD-Einspielung mit normaler Orchesterbesetzung und vor Publikum stattfinden, ausserdem die Theaterproduktionen Paradise City und Otello.
Peter Hauser, stellvertretender Solocellist des BSO, erzählt, dass die gestreamten Kammermusik- und Orchesterkonzerte, die in der publikumslosen Zeit stattfanden, kein durchschlagender Erfolg waren. Zu gross und zu teuer sei der technische Aufwand gewesen, zu gering die Zahl der erreichten Zuschauer. Aus diesem Grund könnte man auch nicht sagen, dass durch die Krise anderes Repertoire oder neue Formate etabliert werden konnten.
Hauser ist der Meinung, dass – je länger die Krise dauert – der Stellenwert der Kultur auch von den Politikern vermehrt wahrgenommen wird. Dass die Kultur systemrelevant und auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor sei, würde jetzt weniger bezweifelt als auch schon. Er hofft, dass der erfreuliche Zuschauerzuwachs seit der Neueröffnung des aufwändig renovierten Casinos durch die Pandemie nicht zum Erliegen kommt.
Für sich selber hat Hauser das beste aus der proben- und aufführungsfreien Zeit gemacht: Mit Kollegen hat er ein Filmmusikprojekt gestartet. Die Zeit, sich das ganze Know-how zu erarbeiten, sagt er, hätte er neben dem Orchesterdienst gar nicht gehabt.
In Basel gab es zwar einige Parallelen zur Situation in Bern, dennoch verlief das Jahr etwas anders: Im Frühjahr wurde der neue Probenraum am Picassoplatz bezogen, wo heute auch die Verwaltung des Orchesters ihren Sitz hat, und im August wurde – nach einer dreijährigen Renovations- und Umbauphase – das Casino wiedereröffnet. Von beidem wird das Sinfonieorchester Basel (SOB) erheblich profitieren können, wenn die Krise vorbei sein wird.
Die für das Orchester wichtigen Eröffnungskonzerte im «neuen» Casino im Spätsommer konnten noch mit 1000 Personen im Saal stattfinden. Aber auch in Basel fielen nachher zahlreiche Konzerte der Pandemie zum Opfer. Solange es erlaubt war, wurden noch Konzerte für 15 Personen abgehalten, für die Plätze verlost werden mussten. Franziskus Theurillat, der Direktor des SOB, sagt, dass diese Konzerte natürlich mit einem immensen Aufwand verbunden gewesen seien. Ebenfalls aufwändig sei auch die Aufführung von Messiaens Saint François d’Assise im Theater gewesen, für die eigens eine neue reduzierte Orchesterbesetzung angefertigt wurde. Gespenstisch sei neulich die Generalprobe von La Traviata gewesen, wo trotz toller Sängerleistungen kein Applaus zu hören war. Vor Publikum wird die Produktion erst zu sehen sein, wenn der Bundesrat weitere Lockerungen zulässt.
Theurillat meint, dass man in der Pandemie unglaublich flexibel sein müsse. So konnten relativ kurzfristig mehrere CD-Aufnahmen realisiert werden, für die sonst die Zeit gefehlt hätte. Der Chefdirigent Ivor Bolton hätte im Januar ein vom Radio übertragenes Konzert – natürlich ohne Publikum – dirigieren sollen, konnte aber nicht aus England einreisen. Überraschend konnte als hervorragende Einspringerin Mirga Gražinyt?-Tyla, die Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra, verpflichtet werden, deren Debüt beim Orchester dem ersten Lockdown zum Opfer gefallen war.
Finanziell sei das Orchester, sagt Theurillat, bisher gut durch die Krise gekommen, dank der Kurzarbeit und da man keine Immobilien bewirtschaften müsse und zahlreiche Solisten- und Dirigentenhonorare weggefallen seien. Anders als in Bern habe man sich in Basel entschieden, bei Proben und Aufführungen ohne die störenden Plexiglaswände auszukommen und dafür regelmässig zu testen. Die Stimmung im Orchester sei derzeit sehr positiv.
Das Orchestre de la Suisse Romande in Genf (OSR) musste natürlich wie die beiden erwähnten Orchester aus der Deutschschweiz seinen Konzertbetrieb im ersten Lockdown einstellen. Im Mai konnten Mozart-Konzerte mit reduziertem Orchester und Publikum stattfinden. Gleichzeitig gab es Auftritte auf einem umgebauten Zirkuswagen, die «Concerts en roulotte». Kleine Ensembles konnten – mit dem nötigen Abstand – in einer recht guten Akustik vor Alters- oder Behindertenheimen, in Pärken und in der Stadt auftreten, was eine sehr positive Resonanz hatte. Céleste Roy, die Solofagottistin des OSR, meint sogar, dass diese Initiative endlich die klassische Musik in Genf aus ihrer elitären Ecke herausgeholt hat. Das Interesse im Orchester, bei diesen Konzerten mitzuwirken, war riesig, und es fanden bis in den Herbst weitere Aufführungen statt.
Nachdem nach den Sommerferien wieder Konzerte im gewohnten Rahmen stattfinden konnten, spielte das OSR nach dem zweiten Lockdown fast sein gesamtes Programm – wenn auch teilweise redimensioniert – als Streamingkonzerte. Dass das Orchester bereits vor einigen Jahren seine Marketingabteilung vergrössert hatte, erwies sich als Glücksfall: Das technische Know-how für neue Vermarktungsstrategien war schon vorhanden und musste nicht erst mühsam erarbeitet werden.
Der Chefdirigent Jonathan Nott, sagt Céleste Roy, habe auch entscheidenden Anteil am Gelingen mancher Projekte gehabt. Er sei ein Visionär und habe sich vorbildlich für sein Orchester eingesetzt. Besonders spektakulär sei ein gefilmtes Konzert mit der 9. Symphonie von Beethoven gewesen, in dem die Mitwirkenden in der ganzen Victoria Hall verteilt gewesen seien und trotzdem ein musikalisch überzeugendes Resultat erzielt worden sei.
Roy erzählt, dass sie die unerwartete freie Zeit vielfältig genutzt hat: Sie habe wieder einmal gründlich an ihrer Technik und an neuem Repertoire gearbeitet, einen Zoom-Meisterkurs gegeben und endlich wieder Zeit für die Acrylmalerei gefunden. Entstanden seien auch einige Bilder mit politischem Hintergrund.
Drei Orchester in der Corona-Krise: Wenn auch nicht ganz freiwillig, konnten viele Ideen ausgedacht und gleich ausprobiert werden. Wenn man es positiv sehen will, hat sich die Orchesterlandschaft durch die Pandemie auch weiterentwickelt.