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«Kultureller Vandalismus»

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Das im nordenglischen Leeds beheimatete Northern Ballet schockiert mit der Mitteilung, aus Geldmangel in Zukunft auf Tourneen Musik vom Band zu verwenden.

Das 1969 gegründete Northern Ballet geniesst in Grossbritannien einen ausgezeichneten Ruf für seine Aufführungen abendfüllender Handlungsballette. Es ist wie die meisten grossen Institutionen eine Arts Council England Portfolio Organisation, es wird also mit Steuergeld und Beiträgen der National Lottery subventioniert. Nicht nur in Leeds, wo die Kompanie seit 2010 ihre eigene Bühne im Stadtzentrum besitzt, sondern auch in zahlreichen englischen Städten, in denen regelmässig Aufführungen des Northern Ballet gezeigt werden, wird die Truppe geschätzt. Ein integraler Bestandteil ist dabei die Mitwirkung der Northern Ballet Sinfonia, eines 28-köpfigen Orchesters, das in allen Stilen zuhause ist. Obwohl die Mitglieder nur auf Projektbasis, also als Freischaffende, engagiert sind, sind sie sehr loyal und wirken teilweise seit Jahrzehnten im Orchester mit.

Im September 2023 erreichte die Öffentlichkeit die Hiobsbotschaft, dass ab April 2024 die Tourneen grösstenteils ohne Livemusik gespielt werden sollten. Der Grund dafür seien die Inflation, die allgemeine Wirtschaftskrise und der Ukraine-Krieg, die die Energierechnungen und die Transportkosten einer Tournee unverhältnismässig in die Höhe getrieben hätten. Dass durch diese Massnahme fast dreissig Musiker*innen ihre Lebensgrundlage verlieren würden, wurde, wenn auch vielleicht mit Bedauern, als Kollateralschaden verbucht.

Empörung und Solidaritätsbekundungen

Die von den Orchestermitgliedern verbreitete Nachricht führte, mindestens bei kulturell Interessierten, zu grosser Empörung und wurde von der englischen Musikergewerkschaft Musicians’ Union als «kultureller Vandalismus» bezeichnet. Der berühmte Komponist Claude-Michel Schönberg, der Autor von Les Misérables und Miss Saigon, der für das Northern Ballet Wuthering Heights und Cleopatra geschrieben hatte, schrieb in einem offenen Brief, dass er mit Vergnügen mit der Sinfonia gearbeitet hätte und vom engagierten Spiel der Musiker*innen während vieler Aufführungen quer durch Grossbritannien beeindruckt gewesen sei. Er hielt fest, dass damit qualitativ hochstehendes Tanztheater jährlich Tausenden von Menschen zugänglich gemacht worden sei. Die Livemusik bringe Emotion, während aufgenommene Musik keine Spontaneität besitzen würde und entsprechend das Erlebnis weniger beeindruckend sei. Der Dirigent würde mit den Tänzern atmen, um eine möglichst einmalige Aufführung zu erreichen.

Die Internationale Musiker-Föderation (FIM), deren Vizepräsident der SMV-Zentralsekretär Beat Santschi ist, verurteilte in einem Brief an den CEO des Arts Council England Darren Henley die Ideen des Northern Ballet: «Musiker durch eine Aufnahme zu ersetzen, wäre ein bedeutender kultureller Rückschritt in einem Land, das bekannt dafür ist, welchen Wert es der Live-Musik beimisst und für die aussergewöhnliche Qualität seiner Künstler. Es würde auch einen verheerenden Effekt auf die Musiker des Northern Ballets haben, die alle Verträge als Freischaffende haben und deren Einkünfte zu einem bedeutenden Teil von den Tourneen abhängen. Musik- und Tanzliebhaber auf der ganzen Welt könnten es nicht verstehen, wenn der Arts Council England ein schweigender Komplize dieser alarmierenden Situation wäre.»

Live-Musik ist ein integraler Bestandteil eines Balletts

Morris Stemp, bei der Musicians’ Union für die Orchester zuständig, bekräftigte auch, dass die Musik ein integraler Bestandteil eines Balletts sei und davon nicht getrennt werden sollte und auch nicht getrennt werden kann. Die Musiker*innen der Sinfonia seien jetzt auf zusätzliche Einkünfte angewiesen. Im Gespräch weist er auch darauf hin, dass die Subventionen für das Northern Ballet wie auch für andere Institutionen dringend erhöht werden müssen und wirft der konservativen Regierung vor, die Kultur nicht genügend zu unterstützen. Die Subventionen seien in den letzten Jahrzehnten um rund 25% gesunken. Eine Labour-Regierung, glaubt er, würde wohl die Anliegen der Kulturschaffenden ernster nehmen.

Das Orchestre de la Suisse Romande, das Tonhalle-Orchester Zürich und das Sinfonieorchester Basel bekundeten mit Aktionen unter dem Titel «Keep Northern Ballet Live» bereits ihre Solidarität mit den Musiker*innen der Sinfonia. Mittlerweile scheint – vielleicht auch aufgrund der nationalen und internationalen Proteste – etwas Bewegung in die verhärteten Fronten gekommen zu sein: Am 16. Januar 2024 veröffentlichte das Management des Balletts eine Nachricht, dass zumindest die Frühlings-Tournee mit Romeo & Juliet nach Leeds, Sheffield, Nottingham, Norwich und London mit Orchester gespielt wird und man gemeinsam mit Gewerkschaft und Orchester nach einer besseren Lösung für die Zukunft suchen will. Es heisst aber auch hierzulande weiterhin wachsam zu sein: Das Genfer Ballett will ohne Orchester, aber immerhin mit einer Aufnahme des OSR auf Tournee gehen, und die Opéra de Dijon hat beim SMV angefragt, ob sie Bühnenmusikaufnahmen des OSR verwenden dürfte, was mit Bezug auf die Bestimmungen in der Tarifordnung D abgelehnt wurde. Der Zentralvorstand des SMV hat sich in seiner letzten Sitzung vom 22. Dezember 2023 mit dem Thema befasst und seine grundsätzliche Haltung bestätigt, wonach er darauf beharrt, dass wenn immer möglich Live-Musik verwendet und nur in Ausnahmefällen auf Aufnahmen zurückgegriffen werden soll.

Das Orchestre de la Suisse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott (Foto: Marc Sapin)

Das Sinfonieorchester Basel mit seinem Chefdirigenten Ivor Bolton

Das Tonhalle-Orchester Zürich mit seinem Chefdirigenten Paavo Järvi