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Auf der Flucht vor Putins Aggression

Daniel Lienhard, 27.05.2022 (Schweizer Musikzeitung)

Wenn man das sympathische ukrainische Musikerpaar Nadiia Branytska und Victor Solomin und ihre kleine Tochter in ihrem schicken temporären Zuhause ausserhalb von Basel sieht, kann man sich kaum vorstellen, dass ihr bisheriger Wohnort Kyiv seit dem 24. Februar von der russischen Armee beschossen wird.

Ende April hatte ich die Möglichkeit, mit den beiden Musiker*innen über das ukrainische Musikleben, Victors Instrument – die Domra – und ihre Flucht in die Schweiz zu sprechen.

Wie sah das ukrainische Musikleben vor dem Krieg aus?

Wie in allen Ländern war es sehr vielfältig. Es gibt Sinfonieorchester, Opernhäuser und Musikhochschulen in allen grossen Städten wie Kyiv, Dnipro, Charkiw, Odessa oder Lwiw. Die meisten Orchester werden vom Staat finanziert, einige auch privat. Seit einigen Jahren gibt es auch ein zunehmendes Interesse an Alter Musik, Volksmusik, Jazz und der Kombination dieser drei Stilrichtungen. Neben der eher traditionell ausgerichteten Staatsoper in Kyiv gibt es auch die privat finanzierte „NOVA OPERA“, wo zeitgenössische Opern von ukrainischen Komponisten zur Aufführung gelangen. Die dort in der Inszenierung von Vlad Troitskyi gespielte Ballett-Oper ARK mit Musik von Roman Grygoriv und Ilia Razumeiko und der Choreographie von Oscar Chacon ist übrigens ein ukrainisch-schweizerisches Gemeinschaftsprojekt. Die Qualität der Aufführungen hat vor allem in den grossen Städten ein hohes Niveau. Das Publikum ist insgesamt an Musik sehr interessiert, aber nicht unbedingt an Klassik. In den Metropolen gibt es auch eine rege Jazz-Szene und sehr zahlreiche kleine klassische Konzerte. Es gibt einige Säle mit hervorragender Akustik, zum Beispiel die Philharmonie in Kyiv.

Wird im Moment überhaupt gespielt?

Es wird versucht, das Konzertleben aufrecht zu erhalten, auch als Protest gegen den Krieg. Es finden sogar Konzerte in Luftschutzkellern statt!

Kann man in der Ukraine von einer Orchesterstelle oder von einer Lehrtätigkeit gut leben?

Gut nicht, der Staat stellt für die Kultur zu wenig Geld zur Verfügung. Auch wenn man an einer staatlichen Musikschule oder -hochschule sechs oder gar sieben Tage pro Woche unterrichtet, ist man auf zwei oder mehr Jobs angewiesen. Mit Privatschülern verdient man eher mehr. Die Orchester in der Hauptstadt sind etwas besser bezahlt als in kleinen Städten, wo die Bezahlung schlecht ist.

Kann die ukrainische Musikergewerkschaft UMU dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen der Musiker*innen zu verbessern?

Leider nicht, es herrscht dort noch zu sehr der Geist der ehemaligen Sowjetunion. Die Funktionäre sitzen in ihren Sesseln und möchten nicht gestört werden. Sie sind keine grosse Hilfe. Eine bedeutendere Unterstützung kommt zum Beispiel von einer privaten Stiftung, die junge Musiker*innen, Künstler*innen oder Architekt*innen unterstützt. Die Ukraine ist noch ein junges Land, sie hat viele Probleme aus der Sowjetzeit geerbt. Die Regierung versteht den Wert der Kultur nicht, es werden eher ökonomische Reformen angestrebt.

Nadiia, bevor Sie in die Schweiz kamen, waren Sie Klavierlehrerin und Solistin.

Nein, ich bin keine Solistin, ich habe an einer staatlichen Musikschule Kinder unterrichtet, teils auch privat, korrepetiert und begleitet. Das ist auch das, was mich wirklich interessiert. Ich habe in der Ukraine studiert, hatte aber das Gefühl, dass ich zu wenig Geld verdienen werde und wollte Journalistin werden. Nach einem Masterabschluss in Philosophie an der Universität Kyiv bin ich aber doch zur Musik zurückgekehrt. Meine Lehrer waren hervorragend, sie haben nicht nur Musik unterrichtet, sondern sich mit mir beispielsweise auch über Caspar David Friedrich oder García Lorca unterhalten. Sie wollten, dass man sich Gedanken über die Kunst und die Welt macht. In der Ukraine ist es durchaus möglich, als Pianistin Karriere zu machen und zum Beispiel an einer Hochschule zu unterrichten. Mehr Geld verdient man aber eindeutig, wenn man Popmusik spielt und Popstars begleitet. Man muss sich entscheiden…

Victor, Sie haben an verschiedenen Institutionen unterrichtet und sind ein landesweit bekannter Solist.

Ich habe eine Ausbildung als klassischer Musiker, habe dann aber angefangen, mich für Jazz und Volksmusik zu interessieren und Konzerte in verschiedenen Stilrichtungen zu geben. Das konnte an einem Abend Bach und Vivaldi in der Philharmonie sein, am nächsten Chick Corea und Keith Jarrett in einem Jazzclub, und ausserdem komponiere ich auch selbst. Was mich fasziniert, ist die gegenseitige Beeinflussung der Stile. Jazz und Volksmusik sind beide ohne Improvisation undenkbar. Ich habe mich jetzt sehr auf Improvisation spezialisiert und gebe Kurse für Laien und Profis, egal, welches Instrument sie spielen. Ich gebe auch Hochschullehrern Tipps, wie sie die Improvisation in ihren Unterricht einbauen können. Das ist noch etwas Neues für die Ukraine.

Victor, Ihr Instrument ist die Domra, ein Zupfinstrument, das in der Schweiz nicht sehr bekannt ist.

Man könnte die Domra als Schwester der Mandoline oder Mandola bezeichnen. Sie wird mit oder ohne Plektrum gespielt und hat vier Saiten. Es gibt Instrumente in verschiedenen Grössen, mein Lieblingsinstrument ist die Tenor-Domra. Die Domra ist vermutlich vor tausend Jahren aus Westeuropa in die Ukraine gekommen.

Wie haben Sie zur Domra gefunden?

An der Musikschule – noch zu sowjetischer Zeit – habe ich Bajan, ein Knopfakkordeon, gelernt und es mit der Zeit sehr gut beherrscht. Als ich an der weiterführenden Schule auf die Domra gestossen bin, habe ich gemerkt, dass das mein eigentliches Instrument ist, auf dem ich Klassik, Jazz und Volksmusik spielen kann. An der Hochschule in Charkiw habe ich dann Domra studiert. Ich habe später auch viel Musik für mein Instrument geschrieben, sogar für Domra und Sinfonieorchester. Es gibt in der Ukraine auch ganze Domra-Orchester mit Instrumenten in verschiedenen Grössen. In solchen Orchestern habe ich seit meiner Kindheit gespielt, dann auch Werke dafür geschrieben und sie dirigiert.

Haben Sie den russischen Angriff auf die Ukraine erwartet?

Nein, überhaupt nicht. Als die ersten Bomben abgeworfen wurden, haben wir gedacht, dass das doch nicht möglich ist, dass jetzt ein Krieg ausbricht. Für uns ist es darum verrückt, dass in der Ukraine ein antirussischer Nationalismus herrschen soll, weil wir beide selbst russischsprachig sind. Das ist aber überhaupt kein Problem, weil alle Ukrainer beide Sprachen – ukrainisch und russisch – zumindest verstehen, und vor dem Krieg hatten wir keinerlei feindselige Gefühle gegen Russen. Jeder hat ja auch Verwandte oder Freunde in Russland. Uns scheint, dass die Russen ein Problem damit haben, dass die Ukraine viel älter ist als Russland. Und auch damit, dass wir heute mehr Freiheit und Demokratie haben als sie, dass wir unsere Regierung auswechseln können.

Wie kamen Sie auf die Idee, in die Schweiz zu fahren?

Eine gute Frage. Wir konnten uns einen Kriegsausbruch ja nicht vorstellen, aber wir hörten die Bomben. Weil sich unsere Tochter fürchtete, beschlossen wir, für kurze Zeit in eine Stadt im Westen zu fahren. Wir nahmen einen Koffer und zwei Instrumente mit. Als sich die Situation nicht verbesserte, schrieb mir meine Kindheitsfreundin aus der Schweiz, dass wir zu ihr kommen könnten. Erst dann beschlossen wir, das Land mit dem Auto zu verlassen. Aufgrund des Verkehrsaufkommens brauchten wir für die letzten elf Kilometer vor der polnischen Grenze vier Tage!

Wussten Sie, ob Sie in die Schweiz einreisen durften?

Das war darum kein Problem, weil ukrainische Staatsbürger*innen sich ohne Visum 90 Tage in der Schweiz aufhalten dürfen. Jetzt sind wir allerdings registrierte Flüchtlinge. Die Schweizer haben wir als offen, hilfsbereit, nett und grosszügig empfunden. Die Nachbarn meiner Freundin sind sogar extra gekommen, um uns willkommen zu heissen und zu fragen, wie sie uns unterstützen können. Ein Detail am Rande: Eine Sozialarbeiterin, die unsere Personalien aufnahm, fragte nach meiner Schulbildung. Ich sagte, ich hätte einen Master der Uni Kyiv. Das konnte sie kaum glauben. Sie meinte nur: „Komische Flüchtlinge…“ Jetzt sind wir auf der Suche nach Arbeit, wir möchten nämlich den Schweizern nicht auf der Tasche liegen.

Können Sie sich vorstellen, nach Beendigung des Kriegs wieder in die Ukraine zurückzukehren?

Das ist schwierig zu beantworten. Die Hälfte der Schulen sind zerstört, Konzert- und Opernhäuser beschädigt. Es kann sein, dass die Ukraine in der Zukunft eher Bauarbeiter und Architekten braucht als Musiker*innen. Ein normales Leben wird noch schwieriger sein als zuvor.

Konnte Sie der SMV, dessen Mitglieder Sie ja jetzt sind, unterstützen?

Absolut. Wir waren sehr froh um diese Hilfe.

Das Interview wurde auf deutsch und englisch geführt.

victor.solomin.domra@gmail.com

Foto: Daniel Lienhard

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