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Wie viele Musikschaffende braucht das Land?

Diese Fragestellung ist zwar provokativ, sollte aber enttabuisiert werden.

Daniel Schädeli – Orchester werden geschlossen oder fusioniert. Kulturelles fällt vermeintlichen Sparzwängen und Verteilkämpfen zum Opfer. Viele Kulturschaffende erleben immer mehr einen Preiszerfall ihrer kulturellen Leistung. Bei unseren nördlichen Nachbarn ist die Anzahl der Planstellen in Berufsorchestern in jüngster Zeit spürbar gesunken. Diese Aufzählung liesse sich nahezu endlos fortführen. Doch anstatt sich pessimistischen Unkenrufen hinzugeben, gilt es, sich zu fragen, ob es nicht besser wäre, wenn alle betroffenen Institutionen sich zusammenraufen und das Heft selber in die Hand nehmen würden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Musikausbildung mit den oben skizzierten Entwicklungen Schritt hält. Avenir Suisse schreibt von einer Schweiz als wichtigem «Bildungsexporteur» und dass mehr «Konzentration der Kräfte im Hochschulraum» anzustreben sei. Der deutsche Tonkünstlerverband, die Arbeitsgemeinschaft Musik Österreich und der SMPV haben diesbezüglich eine Tagung veranstaltet, die Ende Oktober (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) in der Landesmusikakademie Ochsenhausen in Baden-Württemberg über die Bühne ging. Bereits in der Einladung hiess es: «Warum bilden wir tausende Spitzenmusiker in den teuersten Studiengängen aus, die keine entsprechende Stelle bekommen können, auch aufgrund weltweiter Ausschreibungen, anstatt mehr Lehrer für Musikschulen und Grundschulen auszubilden, um die musikalische Basisarbeit zu befördern?» Könnte das also heissen, dass die Struktur unserer Bildungsinstitutionen auf regionaler und nationaler Ebene rund 15 Jahre nach der Bologna-Reform neu angegangen werden müsste, um so den aktuellen Bedürfnissen aller Stufen und Standorte besser gerecht zu werden?

Derlei Fragen erhitzen nicht erst seit der geplanten Schliessung der Musikhochschule Neuchâtel die Gemüter. Ihre Beantwortung ist gar nicht so leicht, wie es scheinen mag. Auf nationaler Ebene, so der Eindruck, fanden derartige Fragen bislang eher wenig Beachtung.
Bildungspolitik ist offenbar Standortpolitik, und diese wiederum macht in der Schweiz oft an den Kantonsgrenzen halt. Im Kanton Neuchâtel die einzige Musikhochschule schliessen zu wollen, zumal sie es aufgrund des ohnehin schon vorhandenen Fachkräfteüberschusses womöglich gar nicht braucht, hiesse, sich im regionalpolitischen Wettbewerb um die Attraktivität ihres Standorts geschlagen zu geben. Dem zuwider läuft die Forderung nach mehr Konzentration beziehungsweise weniger Streuung der Hochschulstandorte in der Schweiz.

Fachkräfte: Das sind die Absolventen der Musikhochschulen. Überschuss: Das ist die über den eigentlichen Bedarf hinausgehende Anzahl an Absolventen. Und der eigentliche Bedarf? Auf dem Arbeitsmarkt der Berufsorchester steht das Arbeitsangebot der Arbeitnehmer der Arbeitsnachfrage der Arbeitgeber entgegen. Beispiel für eine Nachfrage: eine vakante Solokontrabassstelle. Das entsprechende Angebot: 120 Bewerbungen, 50 Einladungen. Einige Töne Dittersdorf, ein bisschen Koussevitzky, die üblichen Probespielstellen – der nächste bitte!

Im schweizerischen Musikmarkt haben wir heute einen starken internationalen Konkurrenzkampf, was sich grundsätzlich positiv auf die Qualität auswirken dürfte. Wie hoch aber ist der Bedarf an Musikhochschulabsolventen, um sowohl die 13 Schweizer Vollzeitorchester als auch die gesamte Musikszene unseres Landes in qualitativer wie quantitativer Hinsicht bewahren und weiterentwickeln zu können? Lässt sich dieser Bedarf zumindest ungefähr beziffern? Und wenn ja, wie? Hier beginnt die eigentliche Herausforderung. Eines ist gewiss: Mit einfachen Formeln à la «Kulturinfarkt» kommt man einer solch komplexen Problematik nicht bei. Die Diagnose, es gebe von allem zu viel und überall das Gleiche, haben die vier Autoren dieser «Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat und Kultursubventionen» uns nicht wirklich glaubhaft machen können. Ihre Behauptung, halb soviel Kulturangebot wie bisher wäre eigentlich immer noch genug, ist aus der Luft gegriffen – und fatal. In den Augen jener, die im Fake-News-Zeitalter um eine faktenbasierte Weltsicht ringen, bringt eine solche Behauptung nichts. Den eingangs aufgeworfenen Fragen aber sollten wir uns ernsthaft zuwenden! Mutig, differenziert und ohne Angst vor unbequemen Wahrheiten.

Der Artikel gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.