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Vivace bis ins Pensionsalter – Betriebliche Gesundheitsförderung für Orchester

Zwei Drittel aller Berufsmusikerinnen und -musiker leiden aufgrund ihrer Arbeit an gravierenden Gesundheitsproblemen. Mit dem Projekt Corporate Health in Orchestra erarbeitete die Hochschule Luzern mit der Philharmonia Zürich ein betriebliches Gesundheitsmanagement.

hslu – Die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit realisierte mit der Philharmonia Zürich das erste Projekt systematischer betrieblicher Gesundheitsförderung in einem Orchester im deutschsprachigen Raum. Unterstützt wurde es von der Gesundheitsförderung Schweiz und der Fondation Sana. In einem ersten Schritt erhoben Monica Basler, Sarah Dupasquier und Nadine Näpfli, die Expertinnen der Hochschule, bei 77 Philharmonia-Musikerinnen und -Musikern mit einem Fragebogen körperliche und psychische Beschwerden und Belastungsfaktoren sowie Kriterien, die für das Wohlbefinden am Arbeitsplatz ausschlaggebend sind. Anschliessende mündliche Befragungen schärften die Resultate. In einem zweiten Schritt arbeiteten die Expertinnen zusammen mit der Leitung und Vertretern des Orchesters aufgrund der Ergebnisse Massnahmen für eine betriebliche Gesundheitsförderung aus.

Hohe Lautstärken und Sozialklima belasten am meisten
«Ein grosser Belastungsfaktor für die Mitglieder der Philharmonia Zürich ist die hohe Lautstärke im Orchestergraben», erklärt Monica Basler. Viele Musikerinnen und Musiker leiden unter Hörstörungen: 18% der Befragten klagen über Lärmüberempfindlichkeit, 14% über Höreinbussen, 13% über Tinnitus und 10% über andere Hörbeeinträchtigungen. Weitere häufig genannte körperliche Beschwerden sind Schmerzen in Schultern oder Nacken (20%) und Augenprobleme (12%). Ebenfalls als beeinträchtigend erlebten die Orchestermitglieder die Körperhaltung, die unter anderem auf schlecht einstellbare Stühle zurückzuführen ist, sowie die hohe Temperatur und ungenügende Beleuchtung im Orchestergraben.
«Das Sozialklima stellt an die Musikerinnen und Musiker vielfältige Herausforderungen und wird teilweise als Belastung beschrieben. Dazu gehören Konkurrenzdenken und mangelnde Solidarität unter den Kolleginnen und Kollegen sowie der geringe Austausch aufgrund fehlender Teamsitzungen», so Basler. Auch das Vorgesetztenverhalten, etwa die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten, die steile Hierarchie und der Zwang zu intensiver Gruppenarbeit im Orchester sowie die Überforderung durch den strengen Spielplan, der nur wenig Zeit zum Einüben der Werke lässt, beeinträchtigen das Wohlbefinden. Hinzu kommen die mit dem Sozialleben schlecht verträglichen Arbeitszeiten an Abenden und Wochenenden. Konzertmeister und Stimmführende wiederum fühlen sich oft überfordert durch ihre Führungsfunktion, die sie ohne entsprechende Weiterbildung ausüben.

Viele Musiker bleiben ein Arbeitsleben lang im Orchester
«Das Sozialklima im Orchester und das Vorgesetztenverhalten werden zwar von einem Teil der Musikerinnen und Musiker als belastend erlebt, für viele aber sind sie wichtige Faktoren für Freude und Zufriedenheit im Arbeitsalltag», erläutert Basler. Nette Kolleginnen und Kollegen, eine positive Stimmung im Orchester sowie ein gutes Einvernehmen mit dem Dirigenten sind zentral für das Wohlbefinden. Ebenfalls als wichtiges Kriterium für Arbeitszufriedenheit wird der Arbeitsinhalt verstanden: das Mitwirken in einem qualitativ hochstehenden Orchester, das Aufführen von anspruchsvollen Werken und die Anerkennung durch Arbeitskollegen, Dirigenten sowie Publikum und Medien. «Viele Orchesterstellen sind Lebensstellen», weiss Basler. Die Fluktuation in der Philharmonia Zürich ist sehr tief; durchschnittlich arbeiten die Befragten seit 17 Jahren dort. Deshalb ist für sie das Vertrauen in die Zukunft wichtig: Neben der Arbeitsplatzsicherheit werden das Gehalt sowie der Gesamtarbeitsvertrag als positive Faktoren genannt.

Auch andere Orchester sind an den Erkenntnissen interessiert
Die Philharmonia Zürich ergreift nun auf die Erkenntnisse des Projekts sowie die Vorschläge der Expertinnen für ein betriebliches Gesundheitsmanagement gestützte Massnahmen. «Den Musikern steht neu beispielsweise ein Massage-Angebot zur Verfügung. Zudem ist der Einbau von Duschen geplant. Im Zuge einer Reorganisation der Räumlichkeiten wird in näherer Zukunft auch ein Ruheraum eingeplant werden», erläutert Orchesterdirektor Heiner Madl. Auch neue Stühle und ein neues Pultbeleuchtungssystem werden angeschafft. Um den Austausch zwischen der Orchesterleitung und dem Orchester aber auch zwischen den Musikerinnen und Musikern zu fördern sowie die Unsicherheiten von Konzertmeister und Stimmführenden bei der Wahrnehmung ihrer Leitungsfunktionen abzubauen, wurde zudem ein Organisationsentwicklungsprozess angestossen. «Ein betriebliches Gesundheitsmanagement ist kein abgeschlossener Prozess, sondern muss dauerhaft integriert werden», sagt Monica Basler. «Es wäre schön, wenn das mutige Vorangehen der Philharmonia Zürich den Weg für die systematische betriebliche Gesundheitsförderung im Kulturbereich ebnen würde.» Bereits haben weitere Orchester ihr Interesse an einem Gesundheitsförderungsprojekt angemeldet. Von guten Arbeitsbedingungen profitieren schliesslich alle.