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Stummfilmklassiker in neuen Klangfarben

Panzerkreuzer Potemkin, der russische Film mit Kultstatus, der vor fast hundert Jahren (1925) uraufgeführt wurde, kommt in Bern, Lörrach und Lingen (D) mit einer neuen Filmmusik zur Aufführung. Komponist ist der Basler Musiker David LeClair.

Interview: Sara Imobersteg

si: David LeClair, die Komposition für diese Filmmusik war ein Auftrag der Knabenmusik Basel im Jahr 2008. War die Wahl des Films eine Entscheidung der Auftraggeber?
David LeClair: Bei der ursprünglichen Anfrage ging es erst einmal generell um Filmmusik. Wir kamen dann relativ schnell überein, dass es nicht bloss ein Potpourri werden sollte, sondern dass es interessanter wäre, eine zusammenhängende neue Filmmusik zu einem alten Film zu komponieren. Nosferatu, Metropolis standen u.a. auch zur Debatte, Potemkin fand ich persönlich am reizvollsten.
Ich kenne die verschiedensten Filmmusiken zu diesem Film, doch von mir aus gesehen gab es noch keine, die der Handlung richtig entspricht, mit den modernen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen zur Synchronisierung. Deshalb wollte ich eine Filmmusik schreiben, die richtig synchronisiert ist.

Wie hast Du das umgesetzt?
Als ich angefangen habe zu schreiben, habe ich gemerkt, dass jede Szene ihr eigenes Metrum hat. Ruhig schaukelnd in der Hängematte, gesteigert beim Aufruhr, oder sogar gar nichts, Pause, in bestimmten Momenten. Das Nächste sind die Emotionen: Das ist so wunderbar bei diesem Film. Man hat diesen riesigen Bildschirm, und auf diesem Bildschirm ist nur ein Kopf zu sehen, von einem verärgerten Matrosen, oder im 3. Akt von einer älteren Dame, die weint über den verstorbenen Matrosen. Das ist enorm beeindruckend.
Als Drittes gibt es noch den Spannungsbogen. Wie kommt man innerhalb von 12 Sekunden von einer Spannung zu einer völlig andern? Von Lächerlichkeit zu Ärger zum Beispiel. Und so sucht man nach geeigneten musikalischen Mitteln, sei es Harmonie oder Dissonanzen, oder der Wechsel von einem zum andern, oder auch die Klangfarben.
Diese Spannung über siebzig Minuten aufzubauen, habe ich mit verschiedenen Mitteln versucht. Das bedeutet nicht kontinuierlicher Aufbau, es gibt auch Momente, wo aufgebaut wird und dann spannungsärmere Momente folgen, z. B. wenn Menschen weinen. Zuerst habe ich den Bogen für das Gesamte gesehen und dann immer kleinere, immer neue Zäsuren gesetzt.

Der Regisseur Sergei Eisenstein wollte, dass jede Generation ihre eigene Musik zu diesem Film bekommen solle. Vom Stil her liegst Du ein bisschen bei Prokofjew und Schostakowitsch. Wie funktioniert der Bogen da?
Meine Idee war, eine ursprüngliche Musik, die zu diesem Film passen würde, mit den heutigen Möglichkeiten der Synchronisation zu kombinieren. Der Wechsel zwischen Harmonie und Dissonanz des russischen Realismus in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schien mir ein geeignetes Vehikel zu sein. Vielleicht würde ich es anders machen, wenn ich es jetzt schreiben würde.
Doch die Handlung spielt sich auf einem bestimmten Platz auf dieser Erde ab, in Odessa. Da spielt das Kulturelle dieses Orts auch eine Rolle, und auch die Zeit. Es ist eine Momentaufnahme von einer Zeit, in der es diese Konsequenzen gab, diese bestimmten Uniformen, diese Gesichter, und es ist ein Stummfilm.
Es gehörte nicht dazu, dass ich den Film zu etwas anderem mache, als er ursprünglich hätte sein sollen. Ich konnte es mir einfach nicht anders vorstellen, als doch noch etwas aus dieser Epoche zu nehmen. Ich zitiere keinen Komponisten, sondern komponierte zum Teil «im Stil von». Selbstverständlich ist meine eigene Handschrift zu erkennen.

Und wo war bei Dir die Atonalität am Platz?
In der Treppenszene und auch beim Höhepunkt der Meuterei. Diese Verwirrung, auch die Verwirrung in den Gesichtern am Ende von der Hafenszene, bevor der Aufbau zur Treppenszene kommt. Also da, wo Regeln ausser Kraft gesetzt werden…
Ja es gibt Momente, wo Regeln ausser Kraft gesetzt werden. Und es gibt auch Momente, wo der Rhythmus nicht so stark spürbar ist. Am Ende, bevor die Potemkin gejagt wird von der ganzen Flotte. Es ist Morgendämmerung nach einer unruhigen Nacht. Da muss ich die Dunkelheit in der Musik zeigen. Und die Bewegung in der Dunkelheit, die man zwar irgendwie sieht, aber nicht so deutlich, das wollte ich auch in die Musik übernehmen.
Ich wollte also auch die Geschichte mit musikalischen Mitteln erzählen. Es war mir ausserdem ein Anliegen, dass das Stück auch ohne Film noch funktioniert. D.h. es darf nicht zu zerstückelt wirken, ein grosser Bogen muss da sein. Aber es ist auch keine Sinfonie, sondern es ist ein durchkomponiertes Werk mit einzelnen Motiven, die in verschiedenen Varianten auch noch in den einzelnen Sätzen wiedererkennbar sind. Somit waren es sehr viele Parameter, die ich versucht habe zu erfüllen.
So wie heutzutage üblicherweise Filmmusik «komponiert» wird, das wäre nichts für mich. Unter solchem Zeitdruck einzelne Sequenzen zu vertonen – die dann elektronisch produziert werden. Nein. Ich möchte mich hineinfühlen in den Film, die Emotionen spüren, einen Bogen ausdenken. Ich möchte mir Zeit nehmen dafür. Ein Film wird nicht an einem Tag gedreht, die Schauspieler müssen sich in ihre Rolle hineinspüren, und ich fühle mich da auch wie ein Schauspieler, ich möchte mich auch in meine Rolle hineinspüren.

Für die Knabenmusik hast Du ja eine Bläserbesetzung geschrieben. Gibt es Unterschiede zwischen dieser Fassung und derjenigen, die nun von der Basel Sinfonietta gespielt wird?
Grundsätzlich ist sie gleich, punktuell habe ich gewisse Linien auf andere Instrumente verteilt. Es gibt auch eine Version für Sinfonieorchester, die ich sehr gerne mal aufführen würde. Aber die Blasmusikfassung ist natürlich billiger. Die Aufführungen müssen eben auch irgendwie finanziert werden.

Gibt es Projekte für andere Stummfilme?
Im Moment liegen keine vor. Es würde mich wieder reizen und ich weiss, wo sich Tausende von Stunden Stummfilm finden lassen. Aber ich müsste dort einmal die ganze Kartei durchschauen.
Es wären also Filme, die man gar nicht kennt?
Ja, und es gibt bestimmt Entdeckungen in dieser Bibliothek. Das würde mich sehr interessieren. Aber wie gesagt, das wären auch Hunderte von Stunden Einsatz, eine Komposition für ein reales Orchester oder auch ein kleineres Ensemble zu schreiben, nicht für Computer. Und ich möchte für «lebendige» Musiker schreiben, nicht für Synthesizer und Sampler. Auch wenn die Musik zu Potemkin jemals aufgenommen werden sollte, will ich, dass sie von einem Orchester gespielt wird. Vermutlich bin ich so nicht interessant für die Industrie, weil das teurer ist. Das ist zwar einerseits eine Geldfrage, aber eben auch eine Herzensfrage.

Panzerkreuzer Potemkin, Stummfilm 1925
Vertonung von David LeClair

Sinfonietta Basel
Leitung: David LeClair

19. April 2013, Burghof Lörrach
4. Mai 2013, Stadttheater Bern