Muriel Noble; Übersetzung: Daniel Lienhard – 5. Juni 2023 (Schweizer Musikzeitung)
« Die Rechte der Frauen sind nach wie vor in Gefahr. Seien Sie auf der Hut, aufmerksam, kämpferisch; lassen Sie keine Geste, kein Wort und keine Situation zu, die Ihre Würde untergräbt. Die Ihre und die aller Frauen.» (Gisèle Halimi, Anwältin und Autorin)
Es ist doppelt so schwierig, als Frau in einem so hart umkämpften Umfeld wie der künstlerischen Welt zu bestehen, als für einen Mann in der gleichen Situation.
Unter die Lupe genommen und beurteilt
Erstens wird eine Frau unaufhörlich unter die Lupe genommen und beurteilt. Da ich Opfer eines Übergriffs war, habe ich zu meiner grossen Bestürzung die schädlichen Spiele und den Machtmissbrauch selbst erleben «dürfen», eine Macht über die Frauen, welche die Männer um jeden Preis zu behalten versuchen, um es ganz klar zu machen, dass die Frauen nie ebenbürtig sein können. Das ist umso auffallender, wenn man eine freischaffende Musikerin ist, die auf eine Beschäftigung angewiesen ist und wo der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, auszuwählen, abzulehnen, zu bevorzugen oder einer Karriere zu schaden. Die Künstlerin wird ständig gemustert, sei es wegen der Länge des Jupes, der Farbe ihrer Schuhe, der Höhe ihrer Absätze oder des hübschen Gesichts (zu viel oder zu wenig Make-up, das Volumen ihrer Haare…) und wird oft, ohne dass sie sich darüber beklagen kann, mit anderen noch wesentlich unangenehmeren sexistischen Bemerkungen und Gesten konfrontiert, die ein schädliches Klima schaffen. Daher ist das Ablehnen von Annäherungsversuchen oder die Anprangerung eines Machtmissbrauchs immer noch gefährlich für die weitere Karriere, und das sogar auch fünf Jahre nach #MeToo.
Wenn man ein Opfer ist, und obwohl das Opfer in Wirklichkeit nie schuld ist, überkommt einen eine ungerechtfertigte Scham. Weil man denkt, dass man in einem bestimmten Moment schwach war und es «geschehen liess», raubt uns der Übergriff unsere Kraft und unsere eigene Macht und lässt uns verwirrt, sprachlos, schockiert und gelähmt zurück und ohne dass wir wissen, wie wir reagieren sollen. Lucile Quillet, Schriftstellerin und Journalistin, erklärt diesen Mechanismus sehr treffend: Weil wir vor allem nicht «Opfer eines Übergriffs» sein wollen, gibt es den Reflex, die Situation kleinzureden und zu denken, dass, wenn man sie «toleriert», wir immer noch eine gewisse Macht über uns selbst haben. Das Hirn schafft so eine Situation, die leider nicht von langer Dauer sein kann, indem es sich sagt: «Das ist nicht schlimm. Das war nicht absichtlich. Es lohnt sich nicht, daraus eine grosse Geschichte zu machen…». Man muss deshalb absolut damit anfangen, einen Übergriff als das zu erkennen, was er ist, um keinen weiteren mehr zu erleiden. Vergessen wir niemals, dass ein Übergriff uns nicht in Frage stellt und unsere Qualitäten nicht anzweifelt. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber sie verhindert unsere Zukunft nicht… und es geht vorüber.
Ethische Leitlinien
Zu diesem Zweck ermutige ich alle kulturellen Institutionen und Veranstaltungsorte, vor Ort aktiv zu werden und klar sichtbare, detaillierte ethische Leitlinien bekannt zu geben. Es wäre wünschenswert, dass sie Werkzeuge werden, um die Grenzen – die für jede und jeden unterschiedlich sein können – aufzuzeigen, und was akzeptabel ist oder nicht. Auf diese Weise sollte im Hinblick auf die Gleichbehandlung jede Form von Diskriminierung verschwinden, und es sollte als erste Priorität Rücksicht auf die physische und geistige Gesundheit von jeder und jedem genommen werden. Empathie und Wohlwollen sollten zu einer Grundregel des Zusammenlebens werden. Ausserdem sollte gewaltfreie Kommunikation eine Gewohnheit werden, und die Gefühle von jeder und jedem sollten respektiert werden, und es sollten sich alle ihrer Denkweisen und -gewohnheiten bewusst werden: « Was ist meine persönliche Meinung und entspricht sie meinen Überzeugungen? Oder was wiederhole ich, ohne nachzudenken, weil es mir die Gesellschaft eingeflüstert hat?» Es ist wichtig, dass die Aussagen von Missbrauchsopfern nicht mehr in Zweifel gezogen werden, egal welche Art des Missbrauchs sie betreffen, und ihnen geglaubt wird, weil sie viel zu verlieren haben, wenn sie reden. Man sollte auch erkennen, dass Ablehnung so stark empfunden werden kann, dass sie direkt in eine Depression führen kann, und auch, dass Freundlichkeit als wichtige Eigenschaft betrachtet werden soll und nicht als Schwäche. Kurz gesagt geht es darum, die Gleichheit, die Sicherheit, den Respekt und die Selbstverwirklichung aufzuwerten. Es wäre ebenfalls ratsam, in diese Leitlinien ein Verfahren für den Fall eines Missbrauchs aufzunehmen, das festlegt, dass man sich intern an die Personalvertretung oder an die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt wenden soll oder extern an die Kantonale Arbeitsinspektion oder Ihre Gewerkschaft, den SMV. Alle diese Dienstleistungen sind kostenlos!
Schwesterlichkeit/Frauensolidarität
Zweitens wird eine Frau nicht auf die Unterstützung durch ihre Schwestern zählen können. Man muss die Schwesterlichkeit – oder die Frauensolidarität, um einen etwas geläufigeren Ausdruck zu verwenden – trotzdem nicht für eine naive Utopie halten. Sogar in der Musikwelt, in der die Konkurrenz sehr stark ist, kann meiner Meinung nach die Schwesterlichkeit funktionieren und ein starkes Gegenmittel gegen Sexismus sein, der von Natur aus teilt und herrscht. Sie stellt eine Macht dar, eine Praxis und ein solides Fundament, um gemeinsam stärker zu werden.
Leider ist es der Reflex jeder Minderheit, das, was uns gleicht, als die direkteste Konkurrenz zu betrachten. Wir müssen das erkennen und nicht die bekannten männlichen Verhaltensmuster übernehmen (beispielsweise, bereitwillig über sexistische Witze zu lachen), um als zugehörig zu gelten und zu versuchen, auf Kosten der anderen Frauen, in einer Hierarchie aufzusteigen, die von patriarchalem Verhalten beeinflusst ist. Man muss den Mythos vom «Zickenkrieg», der mit der weiblichen Rivalität in Verbindung gebracht wird, durch die Bewusstmachung und die Analyse der kleinen alltäglichen Reflexe und Gesten abbauen und der eigenen Unsicherheit ins Auge sehen: Man sollte die anderen Frauen nicht als Rivalinnen sehen, da sie sich im Gegenteil als Verbündete erweisen können! Amina Sow spricht von einer Theorie der Ausstrahlung: «Was einer Frau zugute kommt, davon profitieren indirekt auch die anderen.» Wenn man also eine Frau kritisiert, kritisiert man sich selbst; wenn man die Arbeit einer anderen Musikerin sabotiert, schwächt man seine eigene Position.
Wenn man im musikalischen Umfeld seine Erfahrung zum Beispiel als Mentorin teilt, ist das eine grossartige Sache und viel sachdienlicher, als die neue Kollegin «sich abmühen zu lassen, wie ich es einst musste». Die Schwesterlichkeit wird es ermöglichen, der Ungleichheit und dem Sexismus entgegenzutreten, zu entscheiden, gemeinsam zu handeln und sich für die Gleichstellung einzusetzen.
Mit einem Wort, wie ich weiter oben geschrieben habe, ist das musikalische Umfeld doppelt schwierig für eine Musikerin, zum einen wegen des Machtmissbrauchs, den sie erleidet, und zum anderen wegen der mangelnden Unterstützung durch andere Frauen. Die Männer werden nie aufgrund der Länge ihrer Jeans beurteilt, und die männliche Solidarität war schon immer sehr stark. Zusammenstehen, uns vereinigen, uns unterstützen, uns zuhören und sich Ratschläge erteilen: alle diese Macht ist in unseren Händen! Der Text der Schriftstellerin Chloé Delaume fasst das alles gut zusammen: «Die Schwesterlichkeit ist eine Haltung. Man soll nie absichtlich einer Frau schaden, nie eine Frau öffentlich kritisieren, nie die Verachtung einer Frau provozieren. Die Schwesterlichkeit schliesst ein, ohne Hierarchie oder Erstgeburtsrecht. Die Schwesterlichkeit ist wie ein Lebensethos.»
Ich wünsche mir, dass diese Schwesterlichkeit am 14. Juni 2023 in allen Herzen der Frauen wohnt!
Muriel Noble, Co-Präsidentin des SMV, Geigerin im OSR