Liest man «Orchester unterwegs», so denkt man für gewöhnlich an Konzertgastspiele, Tourneen im näheren oder auch ferneren Ausland mit einem gewissen Prestigeaspekt. Auftritte solcher Art hat das Bieler Sinfonieorchester wenig zu verbuchen, und trotzdem ist es wohl der heimliche Spitzenreiter, was Reisen angeht.
16.45 Uhr Abfahrt beim Theater Biel mit dem Bus Richtung Thun für eine Vorstellung von «Zar und Zimmermann». Der Bus mit Sängern und Chor, Garderobieren, Maskenbildnerinnen und Requisiteurin fuhr bereits vor einer Stunde, die Bühnentechnik am Morgen früh oder sogar am Tag zuvor. Wenn die Künstler am Spielort eintreffen, müssen Bühnenbild, Beleuchtung und Tonverstärkung eingerichtet sein, die unzähligen Kisten mit Kostümen, Requisiten und Maskenmaterial bereitgestellt und geöffnet. Auch der Orchesterwart ist schon nachmittags vor Ort, um den Graben einzurichten und die von ihm transportierten grösseren Instrumente wie Pauke und Harfe zu platzieren.
Doch zurück in den Orchesterbus. Es ist Feierabendzeit, bereits in Biel steht man im Stau, später auch auf der Autobahn rund um Bern herum. Kurz nach 18 Uhr Ankunft in Thun. Schnell müssen die Instrumente ausgepackt und gestimmt werden, um 18.30 Uhr findet die Anspielprobe statt. Die Balance zwischen Bühne und Orchester muss noch ausgetüftelt werden. Es wird wiederholt, umgestellt, ausgeglichen. Um 19 Uhr müssen Bühne und Saal geräumt sein, die Türen werden geöffnet für das Publikum. Kurze Pause bis zum Vorstellungsbeginn um 19.30 Uhr: noch schnell die letzten Bissen vom Sandwich, ein Apfel, ein Kaffee, eine Zigarette, Toilette nicht vergessen – zwei Akte lang wird das nicht möglich sein…
Nach der Vorstellung um 22.15 Uhr geht’s so schnell wie möglich wieder in den Bus und zurück nach Biel. Um kurz vor halb 12 erreicht man das Theater, womit man noch nicht zu Hause ist. Der Bus mit den Sängern und der Orchesterwart werden noch später ankommen, ganz zu schweigen von der Technik.
Dies ist ein Beispielszenario von mehr als der Hälfte aller Musiktheatervorstellungen, die das Bieler Sinfonieorchester zu bestreiten hat. Durch die Theaterpartnerschaft von Biel und Solothurn findet in der laufenden Saison beispielsweise fast ein Drittel aller Opern- und Operettenvorstellungen in Solothurn statt. Jedes Mal ähnelt der Reise- und Transportaufwand demjenigen eines «richtigen» Gastspiels. Hinzu kommen laut der aktuellen Planung 24 Gastspiele in der ganzen Schweiz, von Visp bis Winterthur oder Schaffhausen. Je nach Vernetzung der Theaterdirektion wurden regelmässig auch schon Bühnen des benachbarten Auslandes bespielt.
Warum so viel Aufwand? Die Antwort ist einfach: Im Budget des Theaters Biel-Solothurn sind die Gastspiele ein bedeutender Einnahmeposten. Jede und jeder einzelne Mitwirkende, also auch das Orchester, trägt somit wesentlich zur Sicherung dieser Einnahmen bei. Doch wie gerne tun sie es?
Auf den ersten Blick scheinen sich die Musikerinnen und Musiker des Orchesters recht pragmatisch mit der Situation abzufinden. Wer sich in Biel engagieren lässt, ist sich bewusst, quasi einer «Wandertruppe» beizutreten. Im Gespräch kristallisieren sich nach und nach verschiedene Befindlichkeiten heraus. Eine grosse Gastspieleuphorie kommt bei niemandem auf, gewisse Zweifel an der Verhältnismässigkeit und auch hie und da Unzufriedenheit hingegen schon. Vor allem die Reise wird als belastend empfunden, als nicht nutzbare Zeit, in der man sich weder Instrument noch Familie widmen kann, in der man zur Untätigkeit gezwungen ist, ohne sich dabei wirklich erholen zu können. Denn auch wenn unterwegs gegessen, gelacht, diskutiert oder gedöst wird – wer schon solche Busfahrten mitgemacht hat, weiss: erfrischend sind sie nicht. Hat man bereits eine Vormittagsprobe hinter sich, fährt um 15 Uhr nach Visp, von wo man erst nach ein Uhr nachts zurückkehrt, oder reist man innerhalb einer Woche viermal nach Winterthur, einmal nach Olten und noch nach Solothurn, so geht das unweigerlich an die physische, geistige und nervliche Substanz. Bezahlt wird die Reisezeit übrigens auf die Minute genau. Die Zeiten werden individuell über die Saison kumuliert und pro fünf Stunden in Dienste umgerechnet, anrechenbar auf das Jahresdienstmaximum, nicht aber auf die Monatslimite.
Einigkeit herrscht unter den Orchestermitgliedern darüber, dass es praktisch an jedem Gastspielort angenehmer zu spielen ist als in Biel oder Solothurn. Das liegt zum einen an der dumpfen Akustik in den beiden Häusern, aber auch an den Platzverhältnissen. Ob man in einem Graben von ungefähr 20 m² wie in Biel oder Solothurn sitzt, oder zwei- bis dreimal so viel Platz zur Verfügung hat wie z.B. in Visp und Vevey, ist spürbar. So wundert es nicht, dass diese beiden Spielorte zu den beliebteren gehören, und kommt die Rede auf die hervorragende Akustik in Vevey, huscht doch ein genussvolles Lächeln über das eine oder andere Gesicht.
Die tatsächlich teilweise sehr unterschiedlichen räumlichen und akustischen Voraussetzungen erfordern natürlich auch eine hohe Flexibilität und die Fähigkeit, das Zusammenspiel, den Klang jeweils den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Damit gehen die Bieler sehr souverän um. Die meisten Orte kennen sie seit langem und wissen, was sie jeweils erwartet. So auch in Burgdorf, dem absoluten Gegenteil der «Luxusspielorte», wo selbst die normale kleine Bieler Besetzung nicht in den Graben passt. Hier ist Improvisation gefordert, vor und während der gesamten Vorstellung, wenn etwa normalerweise geteilte Stimmen von einer einzigen Person übernommen werden müssen, oder der wuchtige Schlag der fehlenden grossen Trommel kurzerhand durch das «Bling» des Triangels ersetzt wird! Burgdorf sei einfach speziell, tönt es erstaunlicherweise fast liebevoll vonseiten der Musiker, und man gewinnt den Eindruck, dass die besondere Herausforderung auch besonders Spass macht, zumindest jedenfalls mit einer gesunden Portion Humor angenommen wird.
Vermutlich ist Humor ohnehin ein erprobtes Mittel der Bieler, trotz widriger Umstände gute Musik zu machen. So meint lachend einer der Musiker: «Für mich haben die Abstecher (Bezeichnung in Biel für die Gastspiele) immer einen Hauch von Schulreise: Man packt zwei Sandwiches ein, eines für die Hinfahrt und eines für die Rückfahrt. Beide sind aber bereits vor der Vorstellung gegessen.» Schnell wird er allerdings wieder ernst und berichtet von den Schwierigkeiten, z. B. regelmässige Unterrichtszeiten mit Schülern abzumachen und vieles mehr. Jedoch zum Abschluss erklärt er: «Was mich immer wieder erstaunt und berührt, ist die Haltung, die ich beobachte. Wenn wir am Nachmittag unsere Sachen packen und zum Bus gehen, hat niemand Lust auf diese Reise Doch keiner verbreitet schlechte Stimmung, kein schlecht gelauntes Gesicht. Sobald wir im Bus sind, nehmen wir es so, wie es ist, und machen das Beste daraus.»
Sara Imobersteg