Sie ist schlau und gefährlich, die Volksinitiative, die am 27. September zur Abstimmung gelangt: sie greift nicht nur die Personenfreizügigkeit an, sondern auch die Massnahmen zum Lohnschutz. Eine Annahme könnte für Musikerinnen und Musiker katastrophale Auswirkungen haben.
Manche Volksinitiativen benennen klar und deutlich ihren Inhalt und ihre Ziele, andere verstecken ihre wahren Absichten hinter Slogans. Die Initianten der letzteren verwenden mit mehr oder weniger Geschick die althergebrachten Mittel der Überzeugungskunst mit Argumentationen, die auf den ersten Blick schlüssig wirken, aber in Wirklichkeit von verzerrten Voraussetzungen ausgehen oder logische Fehler beinhalten. Ihre Schlussfolgerungen haben entsprechend wenig mit der Realität zu tun. Das Ziel ist es, mittels einer Rhetorik, die von den wahren Problemen und den Konsequenzen ablenken soll, die Wirklichkeit zu vernebeln. Seit am 1. Juni 2002 das Abkommen über die Personenfreizügigkeit in Kraft getreten ist, das am 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft auf der einen Seite und der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten auf der anderen Seite geschlossen wurde, haben die flankierenden Massnahmen, die vereinbart wurden, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land enorme Vorteile gebracht: einen Anstieg der Löhne und die Bekämpfung des Lohndumpings, die Erleichterung der Ausdehnung der Gesamtarbeitsverträge, die Einführung von Mindestlöhnen in den Branchen, in denen die Löhne unter Druck stehen und die regelmässige Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen aller in der Schweiz tätigen Personen – die es so vorher nicht gegeben hatte -sowohl in den schweizerischen als auch in den ausländischen Firmen, die durch die Sozialpartner durchgeführt wird, um Missbräuche zu entdecken und allenfalls Sanktionen zu ergreifen.
Das verborgene Ziel
Im Fall der Annahme der Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» würden alle diese substanziellen Fortschritte im Arbeitnehmerschutz bedroht, und das Instrument gegen das Lohndumping, über das wir verfügen und das der Schweizerische Gewerkschaftsbund als «das wirksamste in ganz Europa» betrachtet, würde sogar gänzlich in Frage gestellt : der Artikel 15 des «Bundesgesetzes über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne» besagt, dass dieses Gesetz so lange in Kraft bleibt, wie das Abkommen über die Personenfreizügigkeit, was de facto bedeuten würde, dass es ausser Kraft gesetzt würde, sobald dieses Abkommen gekündigt würde. Das ist nicht weiter erstaunlich, weil die SVP, die diese Initiative lanciert hat, seit 20 Jahren im Parlament alle flankierenden Massnahmen erbittert bekämpft hat.
In einem Interview, das am 30. Januar 2018 in der Tribune de Genève erschien, prangerte die Multimilliardärin und SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher diese Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vehement an und behauptete, dass die Lohnkontrolle «nach und nach unser liberales System» liquidieren würde. Es scheint, dass sie etwas leichtfertig vergisst, dass nach den internationalen Ranglisten die Schweiz zu den wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt gehört. Indem sie auch die Gewerkschaften und die Gesamtarbeitsverträge brandmarkt, sieht sie nur zwei Möglichkeiten, um die von ihr so geschmähten flankierenden Massnahmen loszuwerden: eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit oder ihre Abschaffung. Die Liberalisierung des Lohndumpings ist eigentlich das verborgene Ziel der Initiative, die dem Volk am kommenden 27. September vorgelegt wird.
Eine Sackgasse droht
Ein total freier und deregulierter Arbeitsmarkt ohne Gesamtarbeitsverträge, wo Verträge und Sozialleistungen im Namen der «Vertragsfreiheit» individuell zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschlossen werden, also eine Rückkehr in die Zeit, in der die Angestellten keinen Schutz genossen, ist exakt, was das «Positionspapier der SVP zum Schweizer Werkplatz» empfiehlt, das von der Partei am gleichen Tag wie das oben erwähnte Interview vorgestellt wurde, zwölf Tage nach der Lancierung der Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung». Letztere ist allerdings unter den Mitgliedern der nationalkonservativen Partei nicht unumstritten: In einem Interview, das Anfang März in den Zeitungen der CH-Media erschien, sagte der ehemalige Thurgauer SVP-Nationalrat Peter Spuhler, Präsident des Verwaltungsrates der Stadler Rail, dass er hoffe, dass die Bevölkerung diese «für den Wirtschaftsstandort Schweiz gefährliche» Initiative klar ablehnen werde, um auf dem «Königsweg der Bilateralen» weiterzugehen. In der Tat wäre – gemäss einer vom Staatssekretariat für Wirtschaft in Auftrag gegebenen Studie, die im November 2015 erschien – im Falle einer Aufkündigung des ersten Pakets der bilateralen Verträge das schweizerische Bruttoinlandprodukt (BIP) im Jahr 2035 7,1% oder 64 Milliarden tiefer, als wenn die Verträge aufrecht erhalten würden. Für die Periode von 2018 bis 2035 würde sich der kumulierte Verlust auf ungefähr 630 Milliarden belaufen.
Mit geheuchelter Arglosigkeit behaupten die Initianten, dass die Aufkündigung des Vertrags über die Personenfreizügigkeit nicht die Aufhebung der bilateralen Verträge nach sich ziehen würde und dass es ein Leichtes sein werde, einen besseren Vertrag für unser Land auszuhandeln. Dem ist entgegenzuhalten, dass für die EU die Personenfreizügigkeit einen Grundpfeiler darstellt: sie wird darüber mit der Schweiz nicht verhandeln, schon aus Furcht, einen Präzedenzfall für andere Mitglieder der EU oder der EFTA zu schaffen, die das gleiche für sich selbst wünschen würden. Ausserdem zeigen die schwierigen und quasi blockierten Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in der Folge des Brexit, dass Brüssel nicht bereit ist, grosse Zugeständnisse zu machen, nicht einmal an ein Land mit dem fünfthöchsten BIP weltweit. Warum also sollte man hoffen, dass ein neuer, für die Schweiz vorteilhafter Kompromiss zustande kommt, obwohl unser Land nur auf dem 20. Platz der BIP-Rangliste liegt? Umso weniger, als die Initiative verlangt, dass die Neuverhandlungen innerhalb von zwölf Monaten nach der Abstimmung erfolgen, was nicht nur unrealistisch ist, sondern die Schweiz in eine Sackgasse führen würde, da genügend Zeit in Verhandlungen ein wichtiger Faktor ist. Die nationalkonservative Partei riskiert, das Land, das sie angeblich schützen will, in eine unangenehme Situation zu manövrieren. In der Realität ist es nicht die EU, die unser Land und seinen Markt braucht, sondern es ist genau umgekehrt.
Das Ende der bilateralen Verträge
Das erste Paket der bilateralen Verträge, das von der Schweiz mit so viel Hartnäckigkeit ausgehandelt wurde und sicher das bestmögliche Resultat darstellt, würde also ohne Zweifel hinfällig. Unter anderem würde das bedeuten, dass Handelshemmnisse zurückkommen würden (wie am Ende des letzten Jahrhunderts: eine lästige Bürokratie, verlängerte Lieferfristen, keine gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen von Produkten, manchmal Produktion von unterschiedlichen Modellen für die Schweiz und die EU), und dies mit unserem wichtigsten Handelspartner (etwa die Hälfte der schweizerischen Exporte geht in die EU), was zusätzliche hohe Kosten für die Schweizer Unternehmen nach sich ziehen würde. Diese würden ohne Zweifel versuchen, sie durch die Senkung von Löhnen und Sozialleistungen zu kompensieren oder sogar Produktionsstätten zu verlagern. Andere Bereiche, die von einer Annahme der Initiative hart betroffen würden, die Bildung und die Forschung, sind aber für die Zukunft des Landes unverzichtbar.
Überdies würden wegen des Kontingentsystems und der damit verbundenen Willkür die Schwierigkeiten der Unternehmen, die dringend benötigten qualifizierten Arbeitskräfte zu finden, noch zunehmen, da die Schweiz in einigen Berufszweigen nicht genügend Spezialistinnen und Spezialisten ausbildet. Dieser Mangel könnte ebenfalls zu Standortverlagerungen führen. Die Covid-19-Krise hat einmal mehr aufgezeigt, wie wichtig Grenzgängerinnen und -gänger sowie ausländische Arbeitskräfte als qualifiziertes Personal im Gesundheitswesen sind: ohne sie würde das Gesundheitssystem einzelner Kantone zusammenbrechen und die Alters- und Pflegeheime wären schlicht nicht mehr funktionsfähig. Auf diese Unterstützung wird man in Zukunft noch mehr angewiesen sein, da auch hier in der Schweiz nicht genügend Personal ausgebildet wird – schon jetzt fehlen mehr als 20’000 Pflegerinnen und Pfleger (Hilfskräfte und Diplomierte) in den Alters- und Pflegeheimen.
Die Konsequenzen für Musikerinnen und Musiker
Was wären die Konsequenzen für Musikerinnen und Musiker bei Annahme dieser Initiative? Wie so oft, ist unser Beruf auf verschiedene Weise davon betroffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass im Rahmen einer eingeschränkten Zuwanderung Spezialisten in Mikrotechnik oder Chemiker aus dem Gebiet der Arzneimittelforschung den Vorrang vor Musikerinnen und Musikern hätten. Ohne hochqualifizierte neue Pädagoginnen und Pädagogen sowie Instrumentalistinnen und Instrumentalisten aus der ganzen Welt würden unsere Hochschulen nach und nach ihren Ruf verlieren, was einen Rückgang der Zahl der ausländischen Studierenden bewirken und mittelfristig sogar ihre Schliessung aufgrund des Mangels an Auszubildenden nach sich ziehen würde. Die Ausbildung der schweizerischen Berufsmusikerinnen und -musiker würde darunter leiden, umso mehr als eine Kündigung der bilateralen Verträge auch das Ende des freien Zugangs der Eidgenossinnen und -genossen zu den europäischen Hochschulen bedeuten würde. Was würde aus den Schweizer Orchestern und Ensembles, wenn die Möglichkeit, ausländische Musikerinnen und Musiker zu engagieren, wegfiele und gleichzeitig das Niveau der Musikausbildung in der Schweiz sinken würde? Es wäre überdies klar, dass die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Somit hätten Schweizer Musikerinnen und Musiker auch keine Möglichkeit mehr, Stellen in den 27 Staaten der Europäischen Union zu bekommen (während jetzt viele temporär oder mit festen Verträgen zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich arbeiten). Man weiss auch nicht, ob sie im Falle eines «Swissxit» ihre Tätigkeit weiterhin ausüben dürften, aber die freischaffenden Musikerinnen und Musiker wären bestimmt stark in ihrer Tätigkeit jenseits der Grenzen limitiert.
Der Musiksektor ist besonders vom Lohndumping bedroht, und da die Annahme dieser Initiative nur das Vorspiel zu nie gekannten Angriffen auf die sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wäre, würden Musikerinnen und Musiker besonders unter dieser Situation leiden. Des weiteren würden die wirtschaftlichen Probleme, die diese Initiative verursacht, mit voller Wucht die Firmen treffen, die ja auch Sponsoren der Orchester, Festivals und Kulturstätten unseres Landes sind, während der Einkommensverlust, die Senkung der Gehälter und die Rückkehr des Lohndumpings besonders den Mittelstand treffen und die Zahl der potenziellen Konzertbesucherinnen und -besucher dramatisch reduzieren würde. Einmal mehr droht eine verhängnisvolle und populistische Initiative einem nicht zu vernachlässigenden Teil der kulturellen Akteure das Leben zu verunmöglichen und ausserdem den künftigen Generationen der schweizerischen Berufsmusikerinnen und -musiker jegliche Zukunftsperspektive zu zerstören.
Weiterführende Links zur vertieften Lektüre:
Abkommen über die Freizügigkeit
Bundesgesetz über die flankierenden Massnahmen
Text der Begrenzungsinitiative
Vom Staatssekretariat für Wirtschaft in Auftrag gegebene Studie (wird im Artikel zitiert)
Argumentarium des Schweizerisches Gewerkschaftsbunds
Statement von Vania Alleva, Präsidentin Unia
Argumente des KMU-Komitees «Kündigungsinitiative – Arbeitsplätze vernichten Nein»