Beat Santschi, Präsident Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt
(Referat anlässlich der Tagung « TISA – Weltweiter Ausverkauf des Service public » vom 9. September 2015 in Bern) -> Download pdf
1. Kultursektor – Bedeutung
Man mag sich vielleicht fragen, was denn Kulturpolitik mit TiSA zu tun hat, es geht doch um Handel, und Kultur ist doch etwas ganz anderes, viel schöneres …
Nun, schön wär’s, leider birgt TiSA auch für den Kultursektor grosse Gefahren. Dabei müssten die Anliegen der Kultur bei den Regierungen eigentlich automatisch auf offene Ohren stossen, tragen die Kulturschaffenden doch nicht nur zur Daseinsvorsorge und zum öffentlichen Wohl bei, sondern leisten auch einen beträchtlichen Anteil am Bruttoinlandprodukt.
In der Schweiz beträgt der Anteil der Kultur- und Kreativindustrie am BIP gemäss einer Studie der ZHdK über 11 Prozent, was höchstwahrscheinlich jeden anderen Sektor in den Schatten stellt. 5.4 Prozent aller Schweizer Arbeitstätigen arbeiten in knapp 12 Prozent aller Schweizer Betriebe in der Kultur- und Kreativwirtschaft.
Aber kulturelle Produkte und Dienstleistungen haben zusätzlich auch noch eine andere als die rein wirtschaftliche Bedeutung, jedenfalls nach Ansicht der 139 Staaten, die die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt ratifiziert haben, darunter die Schweiz.
Kulturelle Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen sind Träger von Identitäten, Werten und Sinn; sie bringen die kulturelle Identität einer Gesellschaftsgruppe zum Ausdruck und dürfen deshalb nicht so behandelt werden, als hätten sie nur einen kommerziellen Wert.
Die Kulturfinanzierung durch die öffentliche Hand setzt dort an, wo der Markt versagt. Sie trägt wesentlich zur kulturellen Vielfalt und zur hochklassigen Kulturszene der Schweiz bei. Sie erfolgt nach dem Prinzip der Subsidiarität: Die grösste Leistung wird auf der lokalen, der Gemeindeebene erbracht, gefolgt von den Kantonen mit ihren Lotterien, und zuletzt vom Bund, der nur knapp 11% beisteuert. Daher ist es besonders wichtig, auch die möglichen Auswirkungen von TiSA auf Kantone und Gemeinden im Blick zu behalten.
Bedeutend für Verhandlungen mit den USA ist auch die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Kulturfinanzierung in der Schweiz etwa 9:1 beträgt, in den USA hingegen genau umgekehrt 1:9.
Wir konstatieren also, dass die dynamische Kultur- und Kreativwirtschaft der Schweiz 11% zum Bruttoinlandprodukt beiträgt, mehr als die meisten anderen Sektoren, und dass die Kulturfinanzierung im Wesentlichen von der öffentlichen Hand geleistet wird, die damit auch die kulturelle Vielfalt fördert. Ähnlich ist die Situation in anderen europäischen Ländern.
Trotzdem ist Kultur für viele Entscheidungsträger immer noch ein nice-to-have, also etwas, das in Krisenzeiten oder auch bei willkürlichen Sparübungen schnell gestrichen werden kann. Ein solcher Fall könnte auch eintreten, wenn ein Staat aufgrund einer hohen Busse in einem Investor-Staat-Schiedsverfahren zum Sparen gezwungen würde.
2. Kultursektor – Bedrohungen
Globalisierung und Informationsgesellschaft schaffen grundsätzlich neue Möglichkeiten für den Austausch und für die Verständigung zwischen den Kulturen der Welt. Allerdings können diese nicht von allen Kulturgemeinschaften gleichermassen genutzt werden.
Tatsächlich besteht im internationalen Vergleich ein massives Ungleichgewicht bezüglich der Möglichkeiten zur Schaffung und zum Austausch von kulturellen Gütern und Dienstleistungen, wie auch zum ausgewogenen Zugang zu diesen. Die Konsequenz ist eine immer deutlichere globale Gleichförmigkeit der kulturellen Inhalte, verbunden mit dem schleichenden Verlust der eigenen kulturellen Identität für Millionen von Menschen.
Manche Länder sehen selbst den lokalen Marktzugang für die eigenen kulturellen Güter und Dienstleistungen behindert, namentlich weil deren Regierungen dem Wert ihrer eigenen kulturellen Vielfalt zuwenig Bedeutung zumessen und daher die entsprechenden politischen Massnahmen, notwendigen Investitionen und Förderungsmechanismen fehlen. Vielerorts ist das kulturelle Angebot auf dem Binnenmarkt daher in seiner Vielfalt beschränkt und besteht zur Hauptsache aus kulturellen Gütern und Dienstleistungen einiger weniger euro-amerikanischer Grosskonzerne.
Um das eigene Kulturschaffen zu fördern und eine zu massive Einfuhr fremder Kulturprodukte auszugleichen, haben viele – insbesondere europäische – Staaten kulturpolitische Massnahmen ergriffen, beispielsweise Vertriebskontingente, besondere steuerliche Regelungen, direkte und indirekte Subventionen oder Regelungen des geistigen Eigentums. Diese gehören grundsätzlich zur Verhandlungsmasse bei Handelsverträgen und könnten durch TiSA bedroht sein.
Sollte es soweit kommen, dass der kulturelle Sektor vollständig liberalisiert würde, wäre die öffentliche Kulturförderung ernsthaft bedroht, weil auf Grund der Inländerbehandlung ausländischen Kulturanbietern dieselbe Förderung wie inländischen gewährt werden müsste und dadurch die öffentliche Kulturförderung unbezahlbar würde.
Beispiel: Kulturelle Uniformität im Kino
Der Film ist wie kaum ein anderes Medium dazu geeignet, identitätsstiftend zu wirken: die Kultur eines Landes, einer Region oder einer Gemeinschaft spiegelt sich in deren Filmen wieder.
2014 wurden weltweit Kinotickets für 36.4 Mrd. $ verkauft, der Film ist also auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, aber nur wenige Länder profitieren davon, und die kulturelle Vielfalt bleibt auf der Strecke.?Schätzungen zufolge kontrolliert Hollywood rund 80 % der weltweiten Filmvorführungen. Dies bedeutet, dass einem grossen Teil der Menschheit im Kino Werte, Verhaltensweisen und Lebensumstände suggeriert werden, die mit ihrer eigenen kulturellen Identität und sozio-ökonomischen Realität nichts oder fast nichts gemein haben.
Wie im Auszug aus der MPAA-Website unschwer zu erkennen ist, ist die US-Filmindustrie sehr stolz auf ihren positiven Handelsüberschuss mit nahezu allen Ländern, und die Erfolgsstory soll natürlich weiter gehen. Daher verfolgen die USA in allen Verhandlungen starke strategische Interessen an der Liberalisierung des audiovisuellen Sektors, auf Druck der TiSA-Lobbying-Organisation Team TiSA der Coalition of Services Industries, zu deren Mitgliedern neben der MPAA auch 21st Century Fox und Disney gehören. Dem Vernehmen nach soll das Team TiSA auch an den streng geheimen Verhandlungsrunden direkt vor Ort dabei sein.
Auch wenn einzelne Staaten in ihren Anfangsofferten gewisse Bereiche ausnehmen, wie etwa die Schweiz u.a. den Bereich der audiovisuellen Dienstleistungen, sind Verhandlungen immer ein Geben und Nehmen, auch kulturpolitische Interessen werden gegen Interessen in anderen Sektoren abgewogen, wie z.B. bereits 1993, als der Bundesrat die bestehenden Quoten für einheimische Filme gegen Landerechte der Swissair in Atlanta eintauschte.
Wie es heute in Schweizer Kinosälen aussieht, zeigt die Hitparade der meistbesuchten Kinofilme: 2014 stammten 7 von 10 Filmen aus Hollywood, ein achter (Lucy) ist zwar ein französischer Film, wird aber von Universal vertrieben. Somit bleibt nur der Spitzenreiter für die französische Kulturwirtschaft und der Zehntplatzierte für die schweizerische. Dr Goali bin ig war Gewinner des Schweizer Filmpreises und profitierte von der Filmförderung des Bundes.
3. UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
Seit den 1990er-Jahren empfanden einzelne Regierungen das internationale Handelsrecht mehr und mehr als Einschränkung ihrer Möglichkeiten zur Steuerung der Kulturpolitik. Die seit dem Abschluss der Uruguay-Runde 1994 manifesten Spannungen erreichten ihren Höhepunkt anlässlich der Verhandlungen über den Entwurf eines multilateralen Investitionsabkommens der OECD. Diese scheiterten im Jahr 1998, weil Frankreich keine Mehrheit für den Vorschlag einer Ausnahmeklausel für die Kultur («exception culturelle») hinter sich scharen konnte. Damit war offenkundig geworden, dass Instanzen mit rein wirtschaftlicher Ausrichtung nicht geeignet waren, um die Berücksichtigung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im internationalen Handel zu befördern; dass nur die Verankerung des Prinzips der kulturellen Vielfalt in einer internationalen Konvention in angemessener Weise garantieren konnte, dass die Handelspolitiken sich künftig nach diesen Grundsätzen richten würden.
Dies führte im Oktober 2005, also vor fast genau 10 Jahren, nach jahrelangen, zähen Verhandlungen zur erstmalige Verankerung der Kulturpolitik im Völkerrecht, zur Verabschiedung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. 148 Staaten haben dafür gestimmt, zwei dagegen (USA, Israel), und dies trotz einer beispiellosen Gegen-Kampagne von US-Aussenministerin Condoleeza Rice in letzter Minute (auf Druck der Motion Pictures Association of America).
Bis heute haben 139 Staaten und die EU die Konvention ratifiziert, darunter auch die Schweiz (und sämtliche anderen really good friends of services mit Ausnahme der USA, Israels, Japans, Liechtensteins, Pakistans, Taiwans und der Türkei.)
Mit der Konvention von 2005 wird „Kultur“ als eine besondere Materie des Völkerrechts erstmals kodifiziert. Das als „Magna Charta der internationalen Kulturpolitik“ oder als „neues Grundgesetz für Kultur“ bezeichnete Übereinkommen legitimiert die Kulturförderung, die Kulturpolitiken und die kulturelle Entwicklungszusammenarbeit der Staaten auf internationaler Ebene. Es betont ausdrücklich den Eigenwert der Kultur und verankert das Recht, diese von Wirtschaftsliberalisierung auszunehmen.
4. Freihandel: Exception culturelle
Aufgrund der Ratifikation der Konvention und der daraus resultierenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten muss die Kultur von diesen aus allen Freihandelsverhandlungen herausgehalten werden. Dies geschieht unterschiedlich:
Kanada und die EU waren entscheidende Advokaten der UNESCO-Konvention 2005. Daher erstaunt es nicht, dass in der CETA-Präambel Bezug auf die Konvention genommen wird.
Im Kulturbereich ist neben der öffentlichen Kulturförderung vor allem die Kulturwirtschaft betroffen. Viele kulturwirtschaftliche Güter und Dienstleistungen sind sprachgebunden. Sie werden vor allem für den nationalen und ggf. europäischen Markt erstellt und nur in geringem Ausmass in die USA exportiert. Demgegenüber werden US-amerikanische Güter und Dienstleistungen zu einem erheblichen Teil nach Europa exportiert. Daher sind für die europäische Kulturwirtschaft kaum signifikante Gewinne zu erwarten.
Norbert Lammert, Präsident des deutschen Bundestages, hat dazu im Januar geschrieben: «Dabei ist Kultur in den laufenden Beratungen als Verhandlungsgegenstand vorläufig ausgeklammert. Doch das wird absehbar nicht so bleiben, der Kulturbereich wird erneut auf die Agenda kommen» und «Innerhalb der WTO ist die EU als Verfechter der kulturellen Vielfalt bereits heute allein und steht oftmals in der Kritik der anderen WTO-Mitglieder.»
Aufgrund der ständigen Veränderung der Kulturlandschaft ist nicht auszuschliessen, dass zukünftige neue kulturelle Aktivitäten auch noch in andere Sektoren fallen werden. Die Gefahr ist gross, dass durch leichtfertige Liberalisierungsofferten gegenwärtiger und zukünftiger kulturpolitischer Handlungsspielraum auf unabsehbare Zeit verloren geht.
Der Bundesrat hat wiederholt bekräftigt, im Bereich der Kultur und des service public keine Liberalisierungsverpflichtungen eingehen zu wollen, aber das SECO hat schon 2005 in einer Medienmitteilung zur revidierten GATS-Dienstleistungsofferte der Schweiz mitgeteilt: «gleichzeitig hält sich die Schweiz an das Prinzip, nach welchem a priori kein Sektor von den Verhandlungen ausgeschlossen werden soll.» Auf solchen Aussagen und der Geheimniskrämerei gründet die Skepsis gegenüber Freihandelsabkommen aller Art von vielen Mit-Eidgenossen, weil wir ja wissen, dass Verhandlungen – wie schon früher erwähnt – immer ein Geben und Nehmen sind und unser Land gewiss nicht zu den stärksten really good friends gehört.
Schlussbemerkungen
Während Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen, haben die Menschen ihr kreatives Potenzial zur Erweiterung der kulturellen Vielfalt eingesetzt. Das Ergebnis all dieser Anstrengungen ist die phantastische, höchst stimulierende kulturelle Landschaft, die heute den Globus überzieht. Allein schon aus Respekt vor den Vorfahren und insbesondere für die zukünftigen Generationen, ist die internationale Staatengemeinschaft verpflichtet, diese zu bewahren und ihre Weiterentwicklung zu fördern.
Die kulturelle Vielfalt ist zugleich Motor und hohe Errungenschaft der menschlichen Zivilisation; sie garantiert das langfristige kulturelle Wachstum. Deshalb darf sie unter keinen Umständen gegen kurzfristiges ökonomisches Wachstum ausgespielt werden.
Noch ein Wort zum diskutierten Investor-Staat-Schiedsverfahren ISDS: Dass private Konzerne Staaten verklagen können sollen, ist absolut abzulehnen, auch wenn dies in anderen Abkommen bereits existiert. Die möglichen Folgen insbesondere für kleine schwache Länder wären unabsehbar. Es kann nicht sein, dass noch nicht mal fremde Vögte, sondern fremde Adlaten unser aller Schicksal bestimmen könnten.
Die Ideologie hinter TISA ist katastrophal! Bei genauer Betrachtung wird TISA zum Synonym für den unverblümten Frontalangriff des Shareholder-Kapitalismus auf die westliche Demokratie – aus deren eigenen Reihen wohlgemerkt. Daher die Geheimniskrämerei. Das Risiko für die Schweiz der kommenden Generationen ist definitiv zu hoch, daher ist ein sofortiger Ausstieg aus den Verhandlungen geboten.
Und last but not least: Selten wird erwogen, ob gewisse geopolitische Ereignisse der letzten Jahre eventuell etwas damit zu tun haben könnten, dass viele, wenn nicht die meisten Weltbürger zu den Globalisierungsverlieren gehören. Die Ausgrenzung der BRICS- und der meisten Entwicklungsländer aus dem Really good – Freundeskreis bei der Weichenstellung zu TiSA, lässt nichts Gutes erahnen und birgt in jedem Fall zumindest Zündstoff für neue globale Konflikte! Bei Beteiligung an TiSA könnte auch die Friedenspolitik der Schweiz unter die Räder kommen.