Unweigerlich kommt einem der kürzlich erschienene und Aufsehen erheischende «Kulturinfarkt» der vier Kulturspezialisten Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz in den Sinn. Ist es das, was dem Quartett vorschwebt? «Elitären» Institutionen die Sauerstoffzufuhr abstellen, es zum «Infarkt», zum Absterben kommen lassen?
Die Herren liegen ja nicht falsch: So wie sich für Fagott-Konzerte des 20. Jahrhunderts kaum jemand interessiert, gibt es überhaupt nur eine kleine Minderheit von Menschen, die sich für ernste Musik, Kunst, Museen, Theater interessiert. Daran hat auch die breite öffentliche Kultur-Förderung der letzten Jahrzehnte nichts ändern können. Trotz sich ständig ausweitender Angebote, trotz Verbilligung, trotz verstärktem Einsatz von Kulturvermittlung, das Gros der Menschen lässt sich ästhetisch nicht erziehen. Diese Erziehung solle man also sein lassen, die Bürger sind mündig, entscheiden selbst, «wie weit sie sich ins kulturelle Feld vorwagen wollen». Kulturförderung dagegen verzerrt den Kultur-Markt und verhindert neue Formen kulturellen Ausdrucks. Die Frage wird aufgeworfen, warum sich heute alle Lebensbereiche grundlegend wandeln und neuen Verhältnissen anpassen müssen und nur die Kultur-Subventions-Unkultur sich davon ausnehmen zu können glaubt.
Mit der Dauer der Lektüre dieses – vielleicht gerade deshalb nicht irrelevanten – Pamphlets gewinnt aber die Einsicht Oberhand, dass die gegenwärtige Art der Kulturförderung bei aller berechtigten Kritik (und den mangelnden Mitteln) wohl trotz allem die derzeit bestmögliche zu sein scheint.
Die Einsicht, dass dem Beharren auf dem «bürgerlichen Bildungskanon» als meritorischem – also zu förderndem – Gut in unserer schnelllebigen, zunehmend unübersichtlicher werdenden Gegenwart wohl doch zentrale Bedeutung zukommt, quasi als Felsen in der Brandung, als unverzichtbarem Orientierungspunkt und dass dies nicht fahrlässig über Bord geworfen werden darf.
Die Einsicht, dass soziokultureller Aufbruch, Laienkultur, digitale Fantasie, Kunsthochschulen im Verbund mit Produzenten oder die Privatisierung von Kulturinstituten – wohlgemerkt ohne bevormundende qualitative Filter, dafür aber den Regeln des Marktes unterworfen – kaum ersetzen können werden, was zuvor durch «Infarktisierung» liquidiert wurde.
Die Einsicht, dass grosse Kunst komplex sein kann (nicht muss) und dass es halt doch – so sehr die Autoren dies auch verschreien mögen – ästhetischer Bildung bedarf, will man nicht a priori den meisten Menschen verunmöglichen, auch schwierigere Kunst entdecken und erleben zu können. Wieso Kulturförderung sich zum Beispiel nicht von «El Sistema» aus Venezuela inspirieren lassen (wo jedes Kind von klein auf im Orchesterverband ein Instrument spielen lernt) und der heutigen Gigahertz-, Megapixel- und Terabytes-Gesellschaft wieder die bewusste Langsamkeit gewisser Art (kunst-)handwerklicher Fertigkeiten entgegensetzen?
Und schliesslich die Einsicht, dass es unzählige Nischenprodukte, wie zum Beispiel die besagten wunderbaren Fagott-Konzerte des 20. Jahrhunderts, unter marktorientierten Bedingungen vermutlich nicht mehr geben würde und dass dies – auch angesichts vieler anderer, vielleicht ebenso nutzloser, jedoch oft ein Vielfaches an Steuergeldern benötigender Dinge – schade und unverantwortlich wäre.
Urs Dengler, Mitglied Zentralvorstand SMV