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Musikvermittlung: Mitmachaktionen in Konzerten für Kinder und Jugendliche

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«Versteht man Bewegung aufgrund ihres ‚emotionalen Gehalts‘ als ‚nach aussen gerichtete Verinnerlichung‘, wird deutlich, dass aktives und sinnerfülltes Hören von Musik vor allem in der Verbindung von Musik mit Bewegung möglich wird.»
Barbara Stiller(1)

Wie schafft man es, Hunderte von Kindern während einer Stunde mit klassischer Musik zu begeistern? Auf diese Frage findet sich keine schnelle Antwort, weil je nach Zielsetzung, Altersgruppe und sogar für jedes zu vermittelnde Musikstück eine andere Lösung gefunden werden muss.
Ich habe in den beinahe zwanzig Jahren als Orchestermusiker die Gelegenheit gehabt, bei unzähligen Kinderkonzerten(2) mitzuspielen. Auch als Vater von zwei Kindern habe ich reichlich solche Konzertformen und sonstige «Kinder-Events» erlebt. Inzwischen bin ich seit drei Jahren als Musikvermittler für das Sinfonieorchester St. Gallen tätig und kann das bis dahin Erlebte so zusammenfassen: Es ist einfacher im Orchester zu sitzen und alles schlecht zu finden, als die Herausforderung anzunehmen, für Kinder ein stufengerechtes Konzert zu entwickeln.

Schlüsselerlebnis
Vor vier Jahren war ich mit meiner Familie für eineinhalb Jahre in Perth, Western Australien. In dieser Zeit bin ich mit meiner schulpflichtigen Tochter in verschiedene Kinderkonzerte des West Australian Symphony Orchestra gegangen. Ich war überrascht und begeistert, welche vielfältigen Konzertformen sie für Kinder anboten. So habe ich lebendige «Kissenkonzerte» erlebt – kammermusikalische Konzerte, in denen ein Schauspieler die Kinder zum Mitmachen animierte (z. B. Mittanzen). Oder ich hörte Jugendkonzerte im grossen Konzertsaal, in dem über 1’500 Jugendliche zeitgenössischer Musik aufmerksam und gebannt zuhörten. Im ersten Moment fand ich, unser Sinfonieorchester St.Gallen müsse alles Bisherige über Bord werfen und die Ideen von Perth eins zu eins übernehmen. Beim genaueren Hinschauen habe ich bemerkt, dass die Konzerte in Perth sehr viel Gutes, aber auch Fragwürdiges vermitteln. Wie lassen sich also neue Ideen mit unserer bisherigen Art der Vermittlung verbinden?

Kommunikator/Musikvermittlung an der ZHdK
Nach meinem Australienaufenthalt habe ich in St. Gallen neben meiner Anstellung als Tubist auch die Stelle des Kommunikators übernehmen dürfen. Diese Aufgabe umfasst unter anderem die Konzeption und Durchführung der Kinder- und Jugendkonzerte des Orchesters. Noch bevor ich mein erstes «eigenes» Kinderkonzert realisieren musste, schrieb die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) den neu gegründeten MAS-Studiengang Master of Advanced Studies in Musikvermittlung und Konzertpädagogik aus.
Dieses zwei Jahre dauernde berufsbegleitende Studium vermittelt auf praxisorientierter Basis, wie man verschiedensten Altersgruppen (vom Säugling bis zu Menschen im dritten Lebensalter) die Musik näher bringen kann. Diese Ausbildung in Zürich entstand im Zuge eines europäischen Trends, die Musikvermittlung erheblich auszubauen. Seit Ende der 90er Jahre ist zu beobachten, dass der Kulturbereich «Kinderkonzert» allmählich zu einer eigenen Sparte wird. Die Ausbildung an der ZHdK trägt dazu bei, dass die Professionalisierung der Musikvermittlung vorangetrieben wird.
Die Anforderungen, die an einen Musikvermittler gestellt werden, sind hoch. Sie umfassen:
• Musiker sein, bzw. ein musikalisches Verständnis haben
• Pädagogisches Wissen haben und umsetzen können
• Kreativität im Entwickeln von Erlebnisfeldern
• Mut und Lust, neue Wege zu beschreiten und Neues auszuprobieren
• Schauspielerische Fähigkeiten
• Organisatorisches Talent
Während des Studiums an der ZHdK wurde an allen diesen obgenannten Bereichen gearbeitet. Dabei war für mich das spannendste Thema der Ausbildung die Planung und Einbindung von sogenannten «Mitmachaktionen» in Kinderkonzerten.

Was sind Mitmachaktionen?
Jede äusserlich aktive und beabsichtigte Beteiligung des Publikums wird in der Musikvermittlung unter dem Sammelbegriff «Mitmachaktion» zusammengefasst. Beispiele hierfür sind:
• zu der Musik zu tanzen oder sich sonst zu bewegen
• mitzusingen oder einen Rap zu rezitieren
• mit einem «Schlaginstrument» (z. B. Schlüsselbund) mitzuspielen
• eine Bodypercussion oder Mouthpercussion auszuführen
• eine vom Musikvermittler gestellte Aufgabe auszuführen

Das Ziel einer Mitmachaktion ist, durch Anregung anderer Sinne ein vertieftes Erlebnis der gehörten Musik zu erreichen. Dabei ist die gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, die durch diesen Phasenwechsel erreicht wird, hilfreich und wünschenswert.
Für das Gelingen eines Kinderkonzertes im Allgemeinen und einer Mitmachaktion im Besonderen ist eine intensive Auseinandersetzung mit den zu vermittelnden Musikwerken unabdingbar. Dazu gehört das Eruieren der wesentlichen Elemente und Kernaussagen der Musik. Eine Mitmachaktion hat daher die Aufgabe, das Wesentliche in der Musik zu vermitteln, ohne dabei zum Selbstzweck zu werden. Der Musikvermittler muss kritisch darauf achten, ob eine vorgesehene Mitmachaktion das Erleben eines Musikstückes verstärkt oder mindert. Die Qualität einer Mitmachaktion wird letztlich an der Frage gemessen, inwiefern sie es schafft, Musik einem Publikum näherzubringen und vertraut zu machen.
Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass nicht jede Mitmachaktion wirklich zielführend ist; äusserlich aktive Kinder sind nicht zwingend auch innerlich bewegt und präsent.

Anforderungen an die Qualität von Mitmachaktionen
• Die Mitmachaktion sollte innerhalb weniger Minuten gut erklär- und erlernbar sein. Sie darf nicht simpel sein, sonst gehen Interesse und Aufmerksamkeit schnell verloren. Ebenso darf sie aber auch das Publikum nicht überfordern.
• Die Mitmachaktion stellt einen Bezug zur Musik her durch die Anknüpfung an den eigenen Erfahrungsschatz des Kindes. Je mehr die Aktion einem vertrauten, alltäglichen Bewegungsrepertoire entnommen ist, desto natürlicher kommt eine Verbindung zwischen hörender Person und dem Musikstück zustande.
• Die Mitmachaktion sollte nicht nur einem pädagogischen Zweck dienen, sondern auch einem ästhetischen Anspruch genügen.
• Das Aktionsprofil einer Mitmachaktion darf das Energieniveau der Musik nicht überlagern.
• Die Mitmachaktion sollte so gestaltet sein, dass auch die Eltern Freude an den Bewegungen haben und dadurch als Motivationsverstärker gegenüber den Kindern fungieren.
• Im Idealfall gelingt es einer Mitmachaktion, alle Altersgruppen im Publikum anzusprechen und das Gemeinschaftserlebnis «Konzert» zu steigern.

Beispiele aus der Praxis
Es gibt verschiedene Möglichkeiten eine Mitmachaktion zu strukturieren. Anhand von zwei Beispielen aus der Praxis möchte ich das Verständnis für Mitmachaktionen vertiefen.

Romanza aus der Sinfonischen Suite «Leutnant Kijé» op. 60 von Sergei Prokofjew
Für den Suitensatz «Romanza» habe ich eine dem Charakter der Musik entsprechende gefühlsbetonte Mitmachaktion entwickelt. Die Musik thematisiert in der Art eines Liebesliedes die Begegnung Leutnant Kijés mit seiner Braut in ihrer Phantasie. Ziel der Mitmachaktion war es, beim Publikum alle Sinne zu mobilisieren, um die imaginäre Erscheinung und die Gefühle des Leutnants Kijés bzw. der Braut erfahrbar zu machen. Im Zentrum stand die Frage: Wie kann ich wissen, dass der Geliebte da ist, wenn ich ihn nicht sehen kann? Um die Sinneswahrnehmung (Tast-, Geruchs- und Hörsinn) sehr intensiv zu gestalten, habe ich mich bei dieser Mitmachaktion auf berührungsempfindliche Stellen bzw. Sinnesorgane am Kopf beschränkt:
Über Kreuz die Wangen streicheln und in Form eines Herzens über das Gesicht fahren
Diese Aktion passt zur Stimmung des Liebesliedes. Die Ausführung durch Überkreuzen der Körperhälften mit den Händen bewirkt eine Harmonisierung der Gehirnhälften.
Die Nase reiben und tief durch die Nase ein- und ausatmen
Das bewusste Atmen und Erleben des Atmungsvorgangs belebt und steigert die Konzentration.
Ohren massieren
Die Ohren werden zusätzlich zum Hörerlebnis äusserlich stimuliert. Das Überkreuzen der Körperhälften harmonisiert (analog zum Streicheln der Wangen) die Gehirnhälften.
Mit den Händen durchs Haar streichen
Diese Berührung wirkt vitalisierend und erfrischend.

«Shaker Loops» von John Adams
Die kraftvolle Mitmachaktion «Ja, mir geht es gut!» verfolgte zwei Ziele. Einerseits ging es darum, dem Publikum eine Gelegenheit zur körperlichen Betätigung zu geben (das vorher gespielte Werk betrug trotz Kürzung immer noch zwölf Minuten). Dabei sollte sowohl der ganze Körper als auch die Stimme zum Einsatz kommen. Andererseits sollte das Publikum auf die Minimalmusic von John Adams vorbereitet werden. Aus diesen Gründen habe ich eine Mitmachaktion entworfen, die dem Zuhörer das Stilmittel der musikalischen Schlaufe in John Adams «Shaker Loops» erfahrbar macht (engl. loop = Schlinge, Schlaufe). Die Mitmachaktion basiert auf dem einfachen Satz «Ja, mir geht es gut!»
Das ganze Publikum wurde zuerst aufgefordert, diesen Satz skandierend zu sprechen. Der nächste Schritt war, das «Ja» stark zu betonen und den Rest des Satzes sehr leise dagegen abzusetzen. Dieser Satz wurde als Loop fortlaufend wiederholt, das «Ja» erhielt eine zusätzliche Körperaktion, indem Hände und Arme in die Höhe geworfen wurden. Anschliessend wurde das Publikum in vier Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhielt eine andere Anzahl Worte des Satzes zugewiesen: «Ja, mir» (2/4 Takt); «Ja, mir geht» (3/4 Takt); «Ja, mir geht es» (4/4 Takt); und «Ja, mir geht es gut!» (5/4 Takt). Alle Gruppen haben dann gleichzeitig ihren jeweiligen Spruch so lange im Sprechchor wiederholt, bis die Aktion in einem gemeinsam ausgerufenen «Ja» als Höhepunkt endete. Durch das eigene körperliche Empfinden eines Loops wurde für die folgende Musik «Shaker Loops» von Adams ein tieferes Verständnis geschaffen.

Zusammenfassung
Die zu beobachtende Entwicklung hin zu Kinderkonzerten mit klassischer Musik, in denen Kinder nicht nur konsumieren, sondern gleichermassen hörend, sich bewegend, sinnlich spürend, emotional erlebend und kognitiv erfassend am Endresultat beteiligt sind, ist sehr wichtig.
Mitmachaktionen innerhalb eines Kinderkonzertes sind ein hocheffizientes Werkzeug in der Musikvermittlung, wenn sie sowohl gut strukturiert und platziert, als auch alters- und situationsgerecht eingesetzt werden. Dies immer unter der Prämisse, dass die Mitmachaktion aus der Musik heraus entwickelt wird und als Element verstanden wird, das der Musik dient. Die Effizienz einer Mitmachaktion misst sich daran, ob es gelingt, im Publikum auf spielerische Weise eine Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit zu erzeugen, die es ermöglicht, unter Beteiligung aller Sinne ein ganzheitliches Hörerlebnis und Musikverständnis ästhetisch zu vermitteln. Unter diesen Vorraussetzungen kann es gelingen, anspruchsvolle Musik dem Publikum näher zu bringen.

Karl Schimke
Tubist und Kommunikator
Sinfonieorchester St. Gallen

(1) Barbara Stiller ist Professorin für Elementare Musikpädagogik an der Hochschule für Künste Bremen und arbeitet freischaffend im Bereich der konzertanten Musikvermittlung.
(2) In diesem Artikel wird anstelle des präziseren Begriffs «Konzert für Kinder und Jugendliche» der besser lesbare Begriff «Kinderkonzert» verwendet. In jedem Fall ist die Konzertform gemeint, in der Kinder bzw. Jugendliche als Publikum anwesend sind.