Mit welchen Herausforderungen sehen sich Freischaffende weltweit konfrontiert? Wie können sie von Musikergewerkschaften besser unterstützt werden? Antworten bot die 1. Internationale Freischaffendenkonferenz (IFC) der Internationalen Musikerföderation (FIM), die vom 26. bis 29. Mai 2019 in Kopenhagen stattfand.
«By working solidly, we are creating deep unity»: Mit dieser Bemerkung hat die dänische Blockflötistin Michala Petri, welche die über 100 Delegierten aus sechs Kontinenten zur Eröffnung mit zwei Bach-Sätzen sowie atemberaubend virtuosen Variationen über ein nordisches Volkslied verzauberte, das Dasein des freischaffenden Musikers auf den Punkt gebracht. Während zweier intensiver Konferenztage wurde der Freischaffendenstatus aus den verschiedensten Perspektiven beleuchtet. Das Wort «Freelance» sei «ambivalent», meinte eingangs der Präsident des Dänischen Musikerverbands, Anders Laursen, der die Rolle des Gastgebers spürbar gern verkörpert hat. In den skandinavischen Ländern spreche man oft von «Flexicurity». Das Freisein bringe aber auch Zwänge mit sich. Sie träten dann zutage, wenn Flexibilität und Sicherheit aus dem Gleichgewicht geraten.
«Es gibt zwei Fälle, in denen der Freischaffendenstatus wirklich zum Problem wird: wenn man eine Familie gründen möchte oder wenn man krank wird», so Ratish Tagde, Präsident der Indischen Musikergewerkschaft. Wer dies voreilig als Problem eines Schwellenlandes abtat, wurde während der gesamten Konferenz immer wieder eines Besseren belehrt. In einem Panel, das dem unerschöpflichen Themenkomplex der Sozialen Sicherheit gewidmet war, verlieh die Vizepräsidentin der norwegischen CREO, Christine Thomassen, ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass sich Freischaffende oft viel zu spät Gedanken über ihre Rente machen würden, und Daumen drücken, dass sie nicht krank werden, anstatt sich angemessen zu versichern. Freelancer würden sich zumeist im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Angst bewegen. Daniel Gomes, Präsident des Senegalesischen Musikerverbands, sprach im gleichen Panel davon, dass in seinem Land eine starke familieninterne Solidarität herrsche, die über manche Miseren hinweghelfe. 2013 habe man im Senegal gemeinsam mit den Ministerien für Kultur und Arbeit eine Kommission ins Leben gerufen, die den Status des Künstlers in der Gesellschaft debattiert. Es sei ein gemeinsamer Wille spürbar, sich besser zu organisieren. Auch hätten Workshops in Zusammenarbeit mit der FIM und der ILO für Aufwind gesorgt. Aus Indien erfuhr man, dass man dort kein Copyright kenne, und man eher über die Herkunft von Musik spreche als über die soziale Sicherheit ihrer Urheber. Von zwei Grundströmungen abgesehen (hindustanische und karnatische Musik), sei die Musiklandschaft stilistisch zersplittert. Zugleich würden rund 95 Prozent des gesamten Einkommens im Musiksektor mit Bollywood erzielt. Alle anderen müssten sich hinten anstellen, so Tagde, der in Mumbay zuhause ist. Hier habe man gerade erst begonnen, konsequent für Musikerrechte zu kämpfen.
Unvergleichbar besser läuft es offenbar in Argentinien: Rund 97 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger geniessen dort Sozialversicherungsschutz, berichtete Ricardo Vernazza, Generalsekretär der SADEM. In der eher gewerkschaftsfreundlich eingestellten argentinischen Volkswirtschaft weht die Flagge der Solidarität. Wer hier viel verdient, zahlt entsprechend viel ins System ein. Beispielgebend waren Vernazzas Ausführungen zu einem Gehaltsfonds, den die Musikergewerkschaft ins Leben gerufen hat. Arbeitgeber seien verpflichtet, Musikerlöhne fristgerecht an den von der Gewerkschaft verwalteten Fonds zu überweisen, welcher moderate Verwaltungsgebühren und Sozialbeiträge abzieht und die Nettolöhne auszahlt. Auf diese Weise habe die Gewerkschaft einen besseren Überblick über den Markt und könne im Zweifelsfall auch eingreifen. Nicht zuletzt seien die Musiker froh, ihr Geld schneller zu erhalten. Darüber hinaus habe die Gewerkschaft Vereinbarungen mit Krankenhäusern, Apotheken, und Hotelketten für spezifische Musikerdienstleistungen abgeschlossen. In Indien ist so etwas derzeit noch Utopie. Auf die Frage, wie Musikschaffende ihren Lebensabend in Würde verbringenkönnen, meinte Tagde trocken: «The show must go on!» Nichtsdestotrotz gebe es auch in Argentinien etliche Probleme, etwa mit dem Rentenversicherungssystem, so Vernazza relativierend.
Französisches System als Vorbild?
Es liegt in der Natur der Dinge, dass Engagements von Freischaffenden zeitlich begrenzt sind. Die Periode zwischen zwei Engagements ist der Vorbereitung, dem Üben, anderweitigen beruflichen Tätigkeiten und administrativen Dingen gewidmet – und bisweilen auch von Unsicherheit und Prekarität geprägt. Um dem Abhilfe zu leisten, haben Kurzzeitbeschäftigte der Bühnenkünste («intermittents du spectacle») in Frankreich Anspruch auf gesonderte Arbeitslosengelder, die sich unter anderem an der Anzahl geleisteter Arbeitsstunden bemessen. Eine Entschädigung erhält, wer mindestens 507 Arbeitsstunden während der letzten 12 Monate, die dem Ende des letzten Arbeitsvertrages vorausgegangen sind, absolviert hat. Zum Vergleich: Die reguläre Arbeitslosenversicherung in Frankreich greift erst, wenn man während vier Monaten mindestens 88 Tage beziehungsweise 610 Stunden gearbeitet hat. Die Höhe der Auszahlung für Musiker beträgt mindestens 44 und maximal 149.78 Euro pro Tag. Abgewickelt wird das Ganze nicht etwa über reguläre Arbeitslosenämter, sondern über den sogenannten «Guichet Unique du Spectacle Occasionnel» (GUSO). Dort können Organisationen, die Kurzzeitbeschäftigte der Bühnenkünste anstellen, sämtliche Deklarationen tätigen und ihre Sozialbeiträge abrechnen lassen. Von den recht komplizierten Modalitäten abgesehen, ging der auf Sozialrecht spezialisierte Anwalt Florent Hennequin in seiner Keynote auch auf die historischen Zusammenhänge sowie die Vorzüge und Problematiken dieses Modells detailliert ein.
Über die zwei Konferenztage hinweg sollte immer wieder darauf Bezug genommen werden. Die Raison d’être dieses Modells sei, dass die Kultur floriere, so die ebenfalls aus Paris angereiste Funktionärin Anne Braun – vor allem heutzutage, da Arbeitsverhältnisse immer kürzer und die Zeiten der Nichtbeschäftigung immer länger würden. Scharfe Kritik übte sie in diesem Zusammenhang an Macrons Regierung, der sie eine «schleichende Uberisation» der Gesellschaft vorwarf. Die aus den USA stammende und derzeit an der juristischen Fakultät der Universität Amsterdam wirkende Heather Kurzbauer hingegen nannte das französische System «utopisch» und «hochdefizitär». Ob damit nicht eine parallele Volkswirtschaft geschaffen werde, fragte sie. Unvorstellbar jedenfalls sei ein solches System in den Niederlanden, deren Regierung in der Kunst nichts als ein Hobby der Linken sehe. Sogleich meldete sich ein französischer Delegierter aus dem Parkett zu Wort: Künstler seien weder Bettler noch Privilegierte, sondern professionelle Leute, die einen Mehrwert erzeugen! Hennequin ergänzte, dass dieses wirtschaftliche Konstrukt vor allem ein Vehikel zur Vermeidung von Prekarität darstelle.
Was tun für Freischaffende?
Tatendrang und die Hoffnung auf ein besseres Morgen strahlten insbesondere jene Delegierte aus, deren Gewerkschaftsarbeit noch in den Kinderschuhen steckt. Eine Quelle der Inspiration waren die Worte der aus Zimbabwe eingeflogenen Edith Katiji. In einem Land, in dem viele Musikschaffende bis vor Kurzem keine Ahnung hatten, was eine Gewerkschaft ist, 99.9 Prozent freischaffend tätig sind, nur zehn Prozent über einen Internetanschluss verfügen, und es noch keine Arbeitslosenunterstützung gibt, leistet Katiji unermüdliche Aufbauarbeit, kümmert sich um Reisebewilligungen, lanciert Workshops, hilft beim Entschlüsseln von Kleingedrucktem, verhandelt Kollektivvereinbarungen, und unterstützt Mitglieder beim Abschliessen von Verträgen mit Arbeitgebern. «Mittlerweile realisiert man, dass es gut ist, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein», sagte sie bescheiden. Auf die Frage eines finnischen Kollegen, wie man den Mitgliedern helfe, wenn der Arbeitgeber nicht besser vergüten wolle, entgegnete sie, dass Musikschaffende zunächst einmal selbst begreifen müssten, was ihre Arbeit wert ist. Musik sei nicht nur eine Kunstform, sondern auch ein Business.
Mehr Dienstleistungen für Freischaffende sei das Gebot der Stunde, postulierte ein uruguayischer Delegierter. Bei aller Wichtigkeit von Tarifverhandlungen müsse der Servicegedanke oberste Priorität haben, befand Ahti Vänttinen, Präsident der finnischen SML, welche 3’500 Mitglieder an 25 Standorten betreut. Wenn man sehr gute Leistungen gut kommuniziere, regele sich der Zuwachs von Freischaffenden wie von selbst. Rick Finlay von der British Musician’s Union unterstrich die Bedeutung von niederschwelligen Kontakten. Freiberufler sollten stets das Gefühl haben, dass man wirklich für sie da ist. «Fragen Sie Ihre Mitglieder immer wieder, wie sie über Sie denken und was sie sich von Ihnen erhoffen», empfahl er den Anwesenden, und ergänzte: «Seien Sie aber auch darin klar, was man sich von Ihnen nicht erhoffen kann!», fügte er hinzu. Auch riet er, sich nicht allein als Arbeitnehmerorganisation und Gewerkschaft im engen Sinne zu verstehen, sondern auch als Botschafter der Musik, um die es ja letzten Endes gehe. Paul Davies, Direktor der Vereinigung australischer Kulturschaffender, zeigte in 13 kurzen Lektionen auf, wie seine Organisation seit einem Jahr für Freischaffende fit gemacht wird. Das klang etwa so: Macht keine wagen Annahmen, sondern betreibt Forschungen! Andere unterbieten ist inakzeptabel! Es gibt keine Patentrezepte, nur harte Arbeit. Vereint euch! Erhebt eure Stimme in der Gesellschaft und seid auch mal laut! Denkt euch realistische Regulatorien aus! Verliert euren guten Willen nicht! Nutzt soziale Medien, denn sie sind gratis und werden auch von der Jugend genutzt. Macht Kampagnenarbeit, die auch Emotionen anspricht! Legt Verhaltenskodexe fest; wer der Gewerkschaft beitritt, ist dazu angehalten, niemals Kollegen zu unterbieten. Schürt Hoffnung anstatt Resignation! Und wenn es hart auf hart kommt: Demonstriert eure Macht und ergreift Streikmassnahmen!
Promotionsarbeit, Gigs und EU-Regelwerke
Wie man sein Dienstleistungsportfolio mit kunstnahen Massnahmen attraktiver gestaltet, zeigte Mette Ellebye-Larsen von der dänischen Firma Gateway Music auf, die 2005 von der Dänischen Musikerföderation gegründet worden war, um dem zunehmenden Frust auf kommerziell ausgerichtete Online-Services zu begegnen. Das Konzept ist ebenso einfach wie ausgeglügelt: Musikschaffende liefern ihre Aufnahmen an die Firma, welche sich um die Distribution kümmert und alle Einnahmen auszahlt. Insbesondere mit Spotify unterhält Gateway enge Beziehungen. Das Geschäftsmodell ist jedoch musikerfreundlicher, als man es sich von den grossen Playern auch nur erträumen könnte. So ist es den Musikern selbst überlassen, wann sie etwas veröffentlichen möchten und zu welchem Preis. Darüber hinaus behalten sie alle Masterrechte und können ihre Verträge mit einer Frist von nur zwei Wochen kündigen.
In einer weiteren Keynote beleuchtete der dänische Consultant Bent Gravesen Fluch und Segen der – wie er zu sagen pflegte – Gig Economy. Der Segen: Viel Freiheit und Selbstbestimmung. Der Fluch: Prekäre Zustände. Hinzu kommt, dass Gigs mehr und mehr online vermittelt werden. Man gerate in zunehmende Abhängigkeit irgendwelcher fragwürdiger Algorithmen, mit der unschönen Konsequenz etwa, dass man im Ranking abrutscht, nur weil man sich nicht jeden Tag auf der Plattform einloggt. Den krönenden Abschluss machte ein intellektuell herausforderndes Pannel zum EU-Wettbewerbsrecht. Auch diese Inhalte an dieser Stelle noch zu umreissen, würde den vorliegenden Bericht endgültig sprengen. Entlassen wurden die Delegierten aus der abschliessenden Vorlesung in der Gewissheit, dass in wenigen Jahren eine Fortsetzung folgen wird.
Johannes Knapp