Beschränken wir uns auf mögliche Situationen im musikalischen Alltag – positiv wie negativ besetzt: Was kommt der geneigten Leserschaft wohl in den Sinn zu diesem Titel?
Rechtzeitiges – noch besser: frühzeitiges – Beenden einer Probe durch einen Dirigenten? Eine wohlgemeinte, gleichwohl bemühend lange Ansprache vor einem Auftritt? Eine Komposition, die einfach nicht enden will, weil der Komponist, gefangen von seinen genialen(?) Ideen, uns stets noch etwas sagen zu müssen glaubt? Die wunderbar ausgewogenen Proportionen eines Werkes? Verbrauchte Stimmen, ermattete instrumentale Energie bei Solistinnen und Solisten, wenn nicht gar bei Kolleginnen oder Kollegen – oder etwa bei sich selber? Vollendete Klanggebung, welche einen Ton oder eine Phrase mit ebensolcher Sorgfalt enden lässt, mit der diese begonnen wurden?
Das ist lediglich eine kleine Auswahl an Beispielen zum Thema «Aufhören», die sich mühelos erweitern liesse. Abgesehen von der Tatsache, dass auch jede musikalische Tätigkeit, jedes musikalische Ereignis irgendwann endet, mag man sich jedoch fragen: Worin soll denn die Kunst des Aufhörens bestehen? Ein lieber Freund pflegt den Ausspruch: «Musikmachen ist nicht schwer – aber das Aufhören…!» Mit Blick auf unsere kurze Aufzählung kann man ihm nicht recht genug geben. Jedenfalls ist nicht jedes Aufhören – geschweige Nicht-Aufhören – in der Musik gewollt oder gekonnt. Zudem kennt die Berufswelt ihre eigenen Gesetzmässigkeiten, die mit musikalischen Aspekten rein gar nichts zu tun haben. Richten wir unseren Blick nun also aufs Aufhören aus Altersgründen und stellen dabei fest: Es besteht ein Unterschied zwischen dem frei zu wählenden und dem verordneten Aufhören. Dabei scheint beides nicht ganz leicht zu sein.
Auf den SMV-Verbandsseiten in dieser Zeitung ist der Umstand zu berücksichtigen, dass man sich das Aufhören leisten können muss. Manche von uns täten es lieber heute als morgen, aber eben…! Erwähnt sei hier, dass heute der Zugang zu Vorsorgewerken in der 2. Säule auch ohne feste Anstellung besteht*. Eines ist jedenfalls unbestritten: Das Rentenalter wird nicht sinken!
Welche Konsequenzen bringt dies für unseren Beruf? Diesen Beruf, der durch einen traurigen Widerspruch gekennzeichnet ist – den Widerspruch, dass unsere instrumentalen, technischen Möglichkeiten mit unserer musikalischen Reife kaum Schritt halten? Vom Ausdruckspotenzial her betrachtet, wären viele Kolleginnen und Kollegen noch mit 70 Jahren eine Bereicherung für Orchester, Ensembles und ihr Publikum. Aber eben…! Wenn die zu beobachtenden Entwicklungen im Bereich der Altersvorsorge eins zu eins auf unseren Beruf angewandt werden, so erwarten uns Probleme, die an die musikalische Substanz gehen können. Wird dann der richtige Zeitpunkt fürs Aufhören kein Thema sein – oder erst recht? Davon wären nicht allein die Orchester mit festangestelltem Personalbestand betroffen. Jede «junge, unverbrauchte Kraft» ist irgendwann nicht mehr jung, und so wird es auch den heute noch «jungen» Ensembles ergehen. Das Erarbeiten von Regelungen, die solchen Problemen Rechnung tragen, sowie das Bereitstellen der erforderlichen Mittel wird Verbände, Verwertungsgesellschaften, Arbeitgeber und Veranstalter noch vor erhebliche Aufgaben stellen.
Ein gutes Arbeitsklima, von der engsten personellen Umgebung bis hin zu intakten sozialpartnerschaftlichen Verhältnissen wird seinen Teil dazu beitragen, dass ältere Kolleginnen und Kollegen nicht einfach als älter wahrgenommen, sondern als wertvolle Kräfte im Ensemble geschätzt werden. Ihr «Aufhören» bei Erreichen einer Altersgrenze wird dann für sie selber eine ganz andere Qualität erhalten. Wir sind heute glücklicherweise dem Prinzip entwachsen, wonach «die Älteren» einfach recht haben, weil sie die Älteren sind. Respekt muss ständig neu durch Leistung legitimiert werden. Wer anderseits als junge Kraft den Respekt der Älteren erfahren darf oder durfte, wird diesen Respekt umgekehrt ihnen entgegenbringen, wenn sie möglicherweise trotz unvermindert ernsthafter Berufshaltung nicht mehr auf der Höhe ihrer einstigen Meisterschaft sind (und vielleicht gerne aufhören möchten) – und sich dankbar daran erinnern, dass eigene, jugendbedingte Unreife oder Unerfahrenheit von ihnen nicht als Schwäche wahrgenommen wurde.
A propos Aufhören: Sind Sie der Meinung, für den Schreiber dieser Zeilen sei der Zeitpunkt gekommen, mit dem Schreiben von Präludien für die SMV-Verbandsseiten aufzuhören? Dann wenden Sie sich bitte ungeniert an unsere Redaktorin!
David Schneebeli, Mitglied Zentralvorstand SMV
*Pensionskasse «Musik und Bildung»: www.musikundbildung.ch
Charles Apothéloz-Stiftung: www.cast-stiftung.ch