Am 12. Februar 2017 stimmt die Schweizer Bevölkerung über die dritte Unternehmenssteuerreform ab, ein «Sonderangebot» für reiche Aktionäre, das mit Sicherheit Sparmassnahmen zur Folge hat, von denen Normalbürger betroffen wären, aber auch die Kultur – und damit die Orchester.
Laurent Mettraux; Übersetzung von Johannes Knapp — Unter dem vermeintlich dezenten Begriff «Steuerprivilegien» hat die Schweiz ausländischen Firmen lange Zeit viel niedrigere Steuersätze auf Unternehmensgewinne geboten als einheimischen. Infolge der Finanzkrise von 2007 haben EU und OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) diesen durchaus unlauteren Wettbewerb genauer unter die Lupe genommen, welcher es Unternehmen erlaubt, sich in der Schweiz niederzulassen, hier saftigen Profit zu machen und dabei sehr wenig Steuern zu zahlen, vor allem auf im Ausland erwirtschaftete Einkommen (gemischte Gesellschaften, auch Tochtergesellschaften genannt, profitieren von Steuerbefreiungen von 80 Prozent auf ausserhalb der Schweiz erwirtschaftete Gewinne). Um das Risiko von Vergeltungsmassnahmen gegen diese Steuergeschenke zu vermeiden, hat der Bund eine dritte Unternehmenssteuerreform ausgeheckt, die USR III, die aus komplexen Steuermassnahmen besteht – darunter «Patentboxen», die Steuervorteile auf Einkünfte aus Rechten des geistigen Eigentums beinhalten (Forschung, Entwicklung und Innovation), oder NID (Notional Interest Deduction), mit der fiktive Zinsabzüge auf steuerbaren Gewinnen vorgenommen werden können, was sich unter Umständen erheblich auf den Staatshaushalt auswirken könnte. Dank solcher Steuerschlupflöcher könnten die Unternehmen ihre Steuerbelastungen auf ein absolutes Minimum reduzieren! Eine raffinierte und zugleich subtile Art und Weise, die Vorschriften der OECD zu umgehen, damit Multinationale weiterhin einen Sonderstatus geniessen können. Doch die hauptsächliche Massnahme der USR III besteht darin, auf einen Einheitssatz in der Einkommensbesteuerung umzustellen, wobei jeder Kanton seine eigenen Quoten bestimmen kann. Um dorthin zu gelangen, geht es einerseits um die Erhöhung der Steuern ausländischer Unternehmen und andererseits um die Steuersenkung inländischer Firmen.
Erhebliche Verluste
Man hätte vernünftigerweise erwarten dürfen, dass die Reform derart ausgearbeitet wird, dass sie keine Steuereinbussen impliziert. Doch die USR III folgt einer anderen Logik : Am 5. Dezember hat der Bund bestätigt, dass sich die Steuerausfälle jährlich auf über 3 Milliarden Franken belaufen würden (eine provisorische Ziffer, da sie nur die Hälfte der Kantone berücksichtigt und die anderen ihre Schätzungen noch nicht bekanntgegeben haben). Doch die Rechnung droht noch höher auszufallen: Als die Vorlage durchs Parlament ging, haben die mehrheitsbildenden rechten Parteien in ungebremster Euphorie zusätzliche grosse Steuergeschenke gemacht und sich so nach den Anliegen der Multinationalen gerichtet – auf die Gefahr hin, dass man von der OECD erneut auf die Finger bekommt, vor allem wegen der umstrittenen NID. Ein weiteres Beispiel ihrer grosszügigen Freigebigkeit: Durch die Re- form würde es möglich, ohne Beschränkungen höhere Ausgaben für Forschung und Entwicklung abzuführen als tatsächlich getätigt worden sind (150%), selbst wenn diese Investitionen im Ausland erfolgen. Somit bestünde für die Unternehmen keine Notwendigkeit mehr, ihre Innovationsabteilungen und die damit verbundenen Arbeitsplätze in der Schweiz zu erhalten. Andererseits hat die bürgerliche Parlamentsmehrheit die Ausgleichsmassnahmen wie die Verpflichtung von Steuerkontrolleuren oder die Kapitalgewinnsteuer weggefegt. Eine einzige feste Vorgabe bleibt: Ein Unternehmen kann nicht mehr als 80 Prozent von seinen eigenen Gewinnen abziehen. In diesem Fall blieben nicht mehr als 20 Prozent Erträge bei einem Steuersatz von 13 bis 16 Prozent je nach Kanton. Der Gesamtsteuersatz würde damit bei nur noch 2.6 bis 3.2 Prozent liegen. Die Abschaffung der Aufwandbesteuerung würde so zum Deckmantel eines Steuerdumpings, das die öffentlichen Haushalte belasten würde. Bereits die letzte Reform, USR II, hat viel mehr gekostet als angekündigt. Damals hat das Bundesgericht auf Anklage der Sozialdemokratischen Partei eine «Fehlinformation» der Behörden festgestellt, wobei ein «unbestreitbar falscher Eindruck» erweckt worden sei. Gross ist das Risiko, dass Gleiches mit der USR III passiert.
Wem wird es nutzen?
Was wären die Konsequenzen aus diesen neuen Steuergeschenken ? Für die Bürger würden sie wohl eine erhöhte Individualbesteuerung und höhere Abgaben bedeuten wie auch einen Leistungsabbau (zum Beispiel in Krankenhausversorgung, Bildung und Infrastruktur) und Subventionskürzungen. Profiteure wären nicht die KMU – die meisten KMU zahlen schon heute fast keine Gewinnsteuern, weil sie bescheidene Gewinne machen –, sondern die grossen Multinationalen, Banken und Versicherungen, und insbesondere ihre Aktionäre. Rund drei Viertel der Aktionäre der grossen Schweizer Firmen leben im Ausland, wohin auch ein Grossteil der Steuergeschenke hinfliessen würde. Personen oder Instanzen, die bereits heute im Geld schwimmen, wie die Scheiche von Katar (Crédit Suisse) oder der Staatsfonds von Singapur (UBS), würden zu den Gewinnern zählen.
Und dennoch bliebe die Schweizer Besteuerung im internationalen Vergleich selbst dann noch sehr attraktiv, wenn man zwar die Steuersätze anwendet, denen Schweizer Unternehmen unterworfen sind, jedoch die Privilegien für ausländische Firmen abschaffen würde. Zudem sollte man nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass die Sozialversicherungskosten und die Mehrwertsteuer im Vergleich zu den Nachbarländern in der Schweiz besonders tief sind, was sich als wichtiger Wettbewerbsvorteil erweist.
Gefahr für die Orchester
Die im Zusammenhang mit dem interkantonalen Steuerwettbewerb bereits vorgenommenen Steuersenkungen liefern konkrete Beispiele der Konsequenzen, welche die USR III in der gesamten Schweiz nach sich ziehen könnte. Der Kanton Luzern hat seine Steuersätze für Unternehmen und Personen mit hohem Einkommen dermassen gesenkt, dass er sich Jahr für Jahr gezwungen sieht, Budgets mit immer radikaleren Sparmassnahmen vorzulegen, vor denen nicht einmal die Bildung verschont bleibt: Um die Abschaffung einer Unterrichtswoche für Sekundarschüler wurde in der Presse entsprechend viel Wirbel gemacht. Darüber hinaus mussten die Steuern für Privatpersonen erhöht werden. Und am 13. Dezember vergangenen Jahres hat der Kantonsrat die Kürzung des kantonalen Beitrags an die grossen Kulturinstitutionen, darunter das Luzerner Sinfonieorchester, durchgewunken (siehe auch den Hintergrundartikel in der letzten Ausgabe). Sparen an der Kultur läuft in Luzern wohl darauf hinaus, dass man das sprichwörtliche Huhn mit den goldenen Eiern schlachtet. In der Westschweiz hat der Kanton Neuchâtel die Unternehmenssteuern gesenkt, mit katastrophalen Folgen für einige Gemeinden, wobei La Chaux- de-Fonds Einbussen zu verzeichnen hat, die 12 Prozent des Verwaltungshaushalts entsprechen. Wie soll man in einer solchen finanziellen Abwärtsspirale noch davon ausgehen können, dass die Städte und Kantone den Kulturakteuren keine Kürzungen verordnen? Für ein Orchester wie das OSI, dessen Fortbestehen von der Unterstützung des Kantons, der Stadt Lugano und etwa fünfzehn kleinerer Gemeinden abhängt, wäre die Situation noch gefährlicher als sie es jetzt schon ist. Zahlreichen Konzertveranstaltern droht ein Rückgang öffentlicher Unterstützungsleistungen, somit gingen wertvolle Möglichkeiten der Zusammenarbeit verloren.
Gesunde öffentliche Haushalte und ein Mittelstand, der ein Teil seines Erwerbseinkommens für kulturelle Aktivitäten auszugeben imstande ist, sind die grundlegenden Voraussetzungen, um die Existenz der Orchester kurz- wie langfristig zu sichern. Aus diesem Grund dürfte es im Interesse aller Orchestermusiker sein, wie überhaupt aller Kulturschaffenden, sich gegen diese neue Steuerreform zu mobilisieren.
Nochmal scharf nachdenken
Sofern die USR III an der Urne abgelehnt wird, sollte der Bund im Sinne der OECD-Anforderungen seine Vorlage wieder hervornehmen und ein neues, ausgewogeneres und moderateres Konzept ausarbeiten, das die öffentlichen Finanzhaushalte nicht dermassen gefährdet und die Schweizer Bevölkerung mit Sparprogrammen konfrontiert, die sich in fataler Art und Weise auf das Kulturleben auswirken könnten. Spätestens dann wäre auch der Moment gekommen, sich einige grundlegende Fragen zu stellen: Ist die Schweiz für Unternehmen nur wegen ihrer tiefen Steuersätze interessant? Riskiert unser Land damit nicht vor allem Unternehmen anzulocken, die der Reiz immer höherer Gewinne blind macht für alle anderen Erwägungen? Sind Rechtssicherheit und institutionelle Stabilität nicht mindestens genauso wichtige Standortfaktoren? Sollte man nicht darum bemüht sein, eine exzellente Bildung und angemessen finanzierte Hochschulen beizubehalten, die den Unternehmen jenes Personal ausbilden, das sie benötigen? Ein intaktes Sozialsystem, gute Infrastrukturen, verlässlicher Personen- und Eigentumsschutz, aber auch eine reiche Kulturlandschaft und die Möglichkeit, verschiedensten qualitativ hochstehenden Darbietungen beizuwohnen: All das sind für verantwortungsbewusste und dynamische Unternehmen viel grössere Pluspunkte als Steuerschlupflöcher.