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Gipfeltreffen in Oslo

Aktiv werden, bevor es zu spät ist. Ein Bericht von der dritten Orchesterkonferenz der Internationalen Musikerföderation

Beat Santschi, Zentralpräsident des SMV und Vizepräsident der FIM, als Moderator einer Gesprächsrunde. V.l.n.r.: Rolf L. Stensø, Laurent Bayle, Dario Broccardo, Renate Böck und Beat Santschi.

Beat Santschi, Zentralpräsident des SMV und Vizepräsident der FIM, als Moderator einer Gesprächsrunde. V.l.n.r.: Rolf L. Stensø, Laurent Bayle, Dario Broccardo, Renate Böck und Beat Santschi.

Der Dialog dient als Erkenntnisinstrument, besonders dann, wenn man mit Menschen aus aller Welt zusammenkommt, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen und zugleich über teils grundlegend verschiedene kulturelle Hintergründe verfügen. Einen solchen Dialog ermöglichte die Internationale Musikerföderation (FIM) mit ihrer dritten Internationalen Orchesterkonferenz (IOC), die vom 24. bis zum 26. Februar 2014 in Oslo stattfand. 230 Delegierte aus über 40 Ländern, darunter mehrheitlich Vertreter von Musikergewerkschaften, aber auch Orchestermanager und Intendanten standen drei Tage lang in einem Informationsaustausch, der in dieser Dimension alle drei Jahre eine Plattform bekommt, 2008 in Berlin, 2011 in Amsterdam und 2017 in Montréal.

Die Frage nach der Zukunft der Sinfonieorchester zog sich wie ein roter Faden durch alle neun Panels der Orchesterkonferenz. Wie aber ist sie zu beantworten? Aus dem Innern des Orchesters heraus, meinte Laurent Bayle, Intendant der Pariser Cité de la Musique und Leiter der noch im Bau befindlichen Pariser Philharmonie. „Die Organisationsstruktur spiegelt die Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. Wenn ich mir die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft vergegenwärtige, definiert sich ein Orchester idealerweise über eine ausreichende Anzahl von über hundert Musikern, mit dem Ziel, das gesamte Repertoire zu bewältigen. Blickt man in die Vergangenheit, definierten sich die Orchester über eine bestimmte Musikerzahl, da es zur kulturpolitischen Strategie der Städte gehörte, zur Behauptung ihrer Identität und aus Gründen des Prestiges über ein Orchester zu verfügen.“ Das entspräche erstens nicht mehr der vom Wandel der Technik geprägten, globalisierten Gesellschaft, in der wir leben, und zweitens nicht mehr der Mentalität der finanziellen Entscheidungsträger. Die aktuelle Situation fordere daher von den Orchestern, dass sie sich dem neuen Kontext stellen. Wie also kann man den Vermittlungsauftrag, der aus einer jahrhundertelangen Musikgeschichte erwächst, weiterhin erfüllen? Bayle lieferte keine fertigen Antworten, meinte jedoch, dass freie Orchester (modèle d’intermettence) auf Dauer dazu neigen würden, sich unfreiwillig den finanziellen Problemen anzunähern, die auch festen Orchestern (modèle de permanence) zu schaffen machen. Er sprach von Orchestern, die Claudio Abbado mitgegründet hat, etwa das Mahler Chamber Orchestra und das Orchestra Mozart. Und er stellte eine weitere Frage in den Raum: Wie kann ein Orchester, das sich in besonderer Weise durch das Charisma Abbados definierte, fortbestehen, obwohl es weder über eine feste Spielstätte noch über eine beständige Struktur verfügt?

Wenn es einen Weg zu verfolgen gäbe, dann den zu einer stärkeren Positionierung der Orchester, so Bayle. Dazu sei es notwendig, das traditionelle Sinfonieorchester zu flexibler zu gestalten, damit das gesamte Spektrum abgedeckt werden könne: Barockmusik, Klassik, Romantik, Moderne und zeitgenössische Musik, historische Aufführungspraxis, neue Spieltechniken, kleine und grosse Formationen etc. Er plädiert für eine neue künstlerische Disziplin, die aus dem Innern des Orchesters und unter Beteiligung von Gewerkschaften und Orchestermanagment kommen müsse, so wie das bei manchen Klangkörpern, etwa den oben genannten freien Orchestern, längst der Fall sei. In einer anschliessenden Podiumsdiskussion brachte es Rolf L. Stensø, Generaldirektor des Norwegischen Radioorchesters, auf den Punkt: „Man muss das Beste von beiden Modellen vereinen: Kontinuität und Flexibilität.“

Flexibilität, Vertrauen und Ehrlichkeit waren auch im Podiumsgespräch zu Arbeitsbedingungen Schlüsselbegriffe. Ein Orchestermusiker aus Barcelona liess vom Parkett aus vermelden, Orchestermusiker seien die ersten, die Probleme verschleiern, indem sie nicht über Berufskrankheiten sprechen. Daraufhin appellierte ein österreichischer Musikergewerkschafter an die Dirigenten, die aufgrund der Tatsache, dass sie selber kaum mit Berufskrankheiten zu kämpfen hätten, für gesundheitliche Probleme der Orchesterkollegen sensibilisiert werden müssten. Aus Serbien wurde von Dezibelmessungen des Gesundheitsamtes berichtet: 160! Die Klanggewalt eines zeitgenössischen Werkes mit vier Orchestern und reichem Schlagzeugarsenal war schuld. Das Orchestermanagement zog die Konsequenz: „Gut, dann wird eben nicht mehr gespielt.“ Um solche Unanehmlichkeiten zu vermeiden, hat man in den Niederlanden Repertoirewerke nach Dezibelzahlen kategorisiert. Was jedoch Uraufführungen anbelangt, seien Überraschungen nicht auszuschliessen. Bongani Tembe, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des südafrikanischen KZN Philharmonic indessen meinte, man müsse beim Bau neuer Opernhäuser Einfluss auf die Architekten nehmen, um Platzangst und mangelnde Bewegungsfreiheit im Graben und daraus resultierende gesundheitliche Schäden auszuschliessen. Tembe gehört zu den schillerndsten Figuren der südafrikanischen Kulturszene. Unter den Konferenzteilnehmern sprach sich schnell herum, dass er für die Organisation der Musik zu Nelson Mandelas Trauerfeierlichkeiten verantworlich war. Sein lebendiger, erfrischender Vortrag zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen im Orchester dürfte allen Konferenzteilnehmern noch lange in Erinnerung bleiben.

„I can’t oversize the importance of dialogue!“, betonte Tembe. „It is of great importance to have a shared vision between orchestra musicians and their management.“ Und in Zypern, wo beide professionellen Orchester derzeit einen Überlebenskampf führen, bleiben dem Management und den Orchestermusikern gar keine andere Möglichkeit, als sich gut aufeinander abzustimmen, meinte Nicolas Papageorgiou, Paukist des Cyprus Symphony Orchestra und Präsident der dortigen Musicians Guild. In diesem Zusammenhang entpuppte sich die in einem weiteren Podiumsgespräch aufgeworfene Frage, ob Entscheidungsprozesse in Orchestern von oben nach unten oder doch besser umgekehrt abzulaufen hätten, als Suggestivfrage, denn man schien sich darüber im Klaren zu sein, dass beide Richtungen getrennt betrachtet gleichermassen fruchtlos sind. Die Lösung: Zusammenarbeit auf Augenhöhe! In diesem Punkt herrschte ebenso Einigkeit, wie darin, dass erneutes Vorspielen im fortgeschrittenen Dienstalter nicht hinnehmbar und mitunter rechtswidrig ist. A propos fortgeschrittenes Dienstalter: In Helsinki besteht die Möglichkeit, für die Dauer einer Tournee Dienste in einem anderen Orchester zu übernehmen, wenn das Reisen eine zu grosse Belastung darstellt. Auch Musiker mit kleinen Kindern hätten davon bereits Gebrauch gemacht, so Gita Kadambi, Generaldirektorin des Helsinki Philharmonic Orchestra. Das vertraglich geregelte Austauschprinzip fordere nicht zuletzt auch die Flexibilität der Orchestermusiker heraus, da man sich schnell in einer neuen Gruppe eingliedern müsse.

Gibt es eine politische Lösung für Orchester in der Krise? Diese Frage gehörte zu den brisantesten in Oslo. Bevor der französische Musikergewerkschaftspräsident Yves Sapir zu einer leidenschaftlichen und brillanten Rede ausholte, meinte er, es seien nicht die Orchester, die sich in der Krise befänden: „Ce sont les politiques qui sont malade.“ Sapir sprach von der unbedingten Notwendigkeit, auf politischem Terrain aktiv zu intervenieren. Doch wie das zu bewerkstelligen ist, hängt verständlicherweise von der Politik der jeweiligen Länder ab. Aus Skandinavien berichtete Sture Carlsson, ehemaliger Intendant der Göteborger Symphoniker und geschäftsführender Direktor des Verbandes schwedischer Theater und Orchester. Eine überaus wesentliche Rolle in der modernen skandinavischen Gesellschaft spiele der öffentlich finanzierte und für jeden zugängliche Kultursektor. In Schweden beispielsweise seien die Orchester von Politikern geradezu umringt. (In den Ausschussgremien diverser Orchester sind gewöhnlich Politiker vertreten, was Orchestermanagern die Möglichkeit kulturpolitischen Einflusses garantiert.) Vorallem aber, so Carlsson, seien die Politiker von der Wichtigkeit klassischer Musik überzeugt. In England sieht es durchaus anders aus: „British politicians are very simple creatures. They have the attention span of a gold fish.“ Mark Pemberton, Direktor der Association of British Orchestras, gab zu bedenken, dass man Politiker nicht mit langen Erklärungen behelligen dürfe, weshalb die populistische Ansicht, Orchestermusik würde sowieso aussterben, schlichtweg falsch ist. „They need to hear the strong story about jobs. Furthermore, politicians love education.“ Auch wenn in England der Arts Council über die Verteilung von Geldern zu entscheiden hat, befinden nationale Politiker über die Höhe des Gesamtbudgets sowie strategische Fragen bezüglich der Bereitstellung von Geldmitteln.

Eindringlich waren die Worte von Theodorus Lazarou, der von den katastrophalen Folgen der Schliessung der Elliniki Radiofonia Teleorasi (ERT), der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Griechenlands sprach. Dem undemokratisch durchgerungenen Beschluss des griechischen Ministerpräsidenten Samaras fiel am 11. Juni 2013 auch das ERT-Orchester zum Opfer. Dennoch muss das oft gemalte Bild vom kulturellen Nord-Süd-Gefälle, dessen Anblick allein helfen kann, über Missstände vor der eigenen Haustüre hinwegzutrösten, in mancher Hinsicht korrigiert werden: Im Herzen Europas, den Niederlanden, hat in den vergangenen Jahren ein drastischer kultureller Kahlschlag stattgefunden. Konkrete Zahlen wurden in Oslo zur Genüge geliefert. So sind die Musiker des Gelders Orkest in Arnhem nicht mehr zu 100 Prozent angestellt, sondern zu 60 Prozent teilzeitbeschäftigt, im Netherlands Symphony Orchestra wurden 10 Vollzeitstellen gestrichen, in den Orchestern von Maastricht und Eindhoven jeweils 10 Vollzeitstellen und fast alle Musikerposten im bekannten Residentie Orkest von Den Haag wurden auf 70 Prozent gekürzt. Die Anzahl der Vollzeitstellen in den niederländischen Radioorchestern wurde insgesamt auf die Hälfte reduziert. Verschont blieben das Rotterdam Philharmonic Orchestra, das Concertgebouw Orchestra Amsterdam, das Nederlands Philharmonisch Orkest, die Amsterdamer Oper, das Noord Nederlands Orkest Groningen und das Radio Philharmonisch Orkest Hilversum. Das gesamte niederländische Kulturbudget wurde 2013 um zweihundert Millionen Euro gekürzt (von 900 auf 700) und das Gesamtbudget der Orchester und Opern beträgt nicht mehr sechzig, sondern vierzig Millionen Euro. In Deutschland fallen manche Orchester ebenfalls der Sparwut zum Opfer. Seit 1992 seien 37 Orchester durch Auflösungen, Insolvenzen oder Fusionen von der Landkarte verschwunden, so DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens. Der nach wie hitzig diskutierte Plan der SWR-Führungsspitze, die beiden SWR-Sinfonieorchester zu fusionieren, fand in Oslo allerdings nur nebenbei Erwähnung. Das ist zwar bedauerlich, verwundert jedoch insofern kaum, als die DOV nach eigenen Angaben bereits Tarifverhandlungen für das hoffentlich niemals existierende Fusionsprodukt führt, wenn auch „mit angezogener Handbremse“.

Angesichts der Themenvielfalt bleibt dieser Bericht zwangläufig unvollständig – er möchte lediglich einen ersten Überblick über einige der in Oslo thematisierten Herausforderungen für die Orchester verschaffen. Die FIM hat unterdessen eine Initiative angekündigt, mit der die Abschlusserklärung weltweite Aufmerksamkeit erlangen soll. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, damit aus dem ironisch pointierten Kommentar eines spanischen Gewerkschafters kein Ernst werden muss: „Ich möchte in drei Jahren nicht wieder kommen, nur um dasselbe nochmal zu erzählen.“

Johannes Knapp