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Die Parabel von der unbezahlten Baguette

Sie kann erkenntnisfördernd sein, ohne zu belehren. Das mag der Grund sein, weshalb sich die Menschheit der Parabel seit jeher bedient.

Er bestellt eine Baguette. «Die krustige bitte! Genau diese, ja!» Kaum hat die Verkäuferin die Stange eingetütet und nach weiteren Wünschen gefragt, heisst es vonseiten des Kunden: «Das ist alles, danke, auf Wiedersehen!» Verdutzt ruft sie ihm hinterher: «Ich glaube, Sie haben vergessen zu zahlen». Daraufhin antwortet er mit entwaffnender Selbstverständlichkeit: «Wissen Sie, ich werde die Baguette gemeinsam mit meiner Familie essen.» Sie: «Na und?» Er mit einem charmanten Lächeln: «Wir sind immerhin zu zehnt am Tisch. Das bedeutet für Sie eine grössere Bekanntheit! Wenn die Leute die Baguette mögen, werde ich ihnen sagen, dass sie aus Ihrer Bäckerei stammt.» Sie entgegnet: «Das Beste, um mich zu unterstützen, ist, zu bezahlen!» Ein Hauch von Gereiztheit legt sich auf sein Gesicht: «Nochmal, wenn meinen Leuten die Baguette schmeckt, wenn sie wissen, dass sie von Ihnen gemacht wurde, werden sie vielleicht vorbeikommen, um bei Ihnen Croissants zu kaufen, oder die süssen Teilchen da…» Sie, ebenfalls leicht genervt: «Ja, ich habe verstanden, aber bezahlen Sie mich bitte für meine Arbeit! Hören Sie, die Baguette kostet einen Euro fünfundzwanzig. Wenn Sie darauf bestehen, gebe ich sie Ihnen für einen Euro. Es geht um meinen Beruf, verstehen Sie?» Er, mittlerweile genüsslich an der Baguette knabbernd, echauffiert sich: «Jaja, Arbeit… Ich habe grossen Respekt für das, was Sie machen, aber Brot bleibt Brot. Es ist so simpel, mein Neffe nimmt etwas Mehl und Wasser, und knetet Brot, vielleicht sogar besser.» Sie: «Fragen Sie doch Ihren Neffen, ob er Ihnen Brot backt!» Er: «Ja, ich könnte, aber ich möchte die Berufstätigen unterstützen, aber Sie wollen augenscheinlich gar nicht arbeiten.» Sie bittet ihn, die Bäckerei augenblicklich zu verlassen. Er: «Kein Problem, ich gehe gleich, denn Bäckereien gibt es in diesem Viertel wirklich zu Genüge.» Sie: «Gehen Sie jetzt!» Er, wieder in die Baguette beissend, mit fachmännischer Attitüde und vollem Mund: «Ich gehe gerne, denn ich schmecke, dass in Ihrem Brot keine Leidenschaft steckt! Sie machen das fürs Geld, das ist wirklich schade. Ich werde Ihnen eine saftige Bewertung schreiben!» Der eigenwillige Kunde schleudert ihr die Baguette zurück auf die Ladentheke und sucht das Weite. Die nächste Kundin, Zeugin des bizarren Dialogs, weiss einen klugen Rat: «Er wollte Ihnen ja eine grössere Bekanntheit ermöglichen. Dafür sollte er Sie besser auf Instagram stellen!» Die übereifrige Kundin zieht sogleich ihr Smartphone aus der Tasche: «Ich mache Ihnen eine kleine Story und Sie mir Schokobrötchen, okay?» Schnurstracks sind ein paar Selfies der beiden gemacht und online gestellt. Auf ihnen zieht die Brotverkäuferin eine Miene, als wäre sie der Welt abhandengekommen.

So in etwa die Story eines französischen Videoclips, der kürzlich in den sozialen (sic!) Medien viral ging. Auffällig oft wurde er von Musikschaffenden geteilt. Die übertragene Bedeutung des vordergründigen Geschehens ist wohl niemandem entgangen. Klassisches Beispiel einer Parabel! Ihre Bildsprache ist von so bestechender Klarheit, dass die assoziative Brücke zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten lange vor dem Ende der kleinen Episode geschlagen ist. Und dabei ist an keiner Stelle von Musik die Rede! «Wenn man alle entlöhnen würde wie die Freelancer», lautet der Titel. Und die Moral von der Geschicht’? Derer gibt es mehrere. Nicht zuletzt führt sie uns vor Augen, dass der in gewisse Köpfe eingebrannte Stereotyp des freischaffenden Musikers, der sich von Applaus ernährt und beim Herumstreunen in freier Wildbahn nach nichts mehr lechzt als nach grösserer Bekanntheit, buchstäblich lachhaft ist. Wenn man aber feststellen muss, dass derart romantisch verbrämte Vorstellungen noch heute von so manchen Entscheidungsträgern gehegt werden, schlägt das Lachen in Fremdschämen um.

Johannes Knapp